Der Gesang der Hölle: Kommissar Kilians vierter Fall
kommen.
Die Tiefgarage war öffentlich begehbar; allein eine Reihe von rund zehn Parkplätzen war für Bedienstete des Theaters reserviert. Von hier aus gingen sie also ins Theater. Er entdeckte eine Kamera links oben in der Ecke, auf Brusthöhe ein Display mit Zahlen und Schlitz. Daneben eine Klingel mit Lautsprecher. Er drückte sie und machte ein freundliches Gesicht, damit der Pförtner in ihm keine Gefahr sah. Nichts geschah. Wiederum klingelte er.
»Drücken Sie einfach die Tür auf«, sagte jemand hinter ihm.
Er drehte sich um. Ludewig kam mit einer Tüte und einer Cola vom Bäcker.
»Ich habe leider keine Karte, und der Pförtner antwortet nicht«, gab Kilian zu bedenken.
»Wenn der Fernseher läuft, sieht er nur, was sich vor ihm an der Fensterscheibe tut.«
Ludewig ging an ihm vorbei. Tatsächlich, er drückte die Tür einfach auf, ohne seine Zugangskarte oder einen Zahlencode einzugeben.
Kilian folgte ihm. »Wenn man so leicht ins Haus reinkommen kann, wozu dann die Ausweise und Kameras?«
»Es ist da, weil es da sein muss«, antwortete Ludewig, während er vorausging und an einem Hörnchen kaute. »Praktisch schaut’s dann so aus, dass der Zugang einfach offen steht, wenngleich er eigentlich nur abends, bei einer Vorstellung, von den Gästen benutzt werden dürfte.«
Kilian seufzte. Nun durfte er ein weiteres Mal den Täterkreis erweitern. Durch die Tiefgarage war es schlicht jedem möglich, das Haus zu betreten und zu verlassen. Über den Aufzug ging es in den dritten Stock, hinein ins Zimmer des Ballettdirektors und in zwei Schritten ins Treppenhaus. Nach getaner Arbeit der gleiche Weg zurück. Mit etwas Glück, ohne von einem einzigen Menschen gesehen zu werden. Die Sicherheitslage an diesem Haus war für Attentäter und flüchtendes Personal wie geschaffen.
Eine Hoffnung blieb – die Kamera. Kilian ging ins Erdgeschoss, schlich sich von hinten an den Pförtner heran. Die Tür stand offen. Er sah mehrere kleine Monitore, die Bilder aus dem Haus wiedergaben. Eines davon zeigte den Eingang bei der Tiefgarage. Konkurrenz bekam die Aufnahme von einem anderen Bildschirm, auf dem sich zwei Tennisspieler unentwegt den Ball zuschlugen. Er wollte den Pförtner schon nach einer möglichen Beobachtung fragen, ob er jemandem die Tür zur Tiefgarage geöffnet hatte, als er auf dem Monitor erkannte, wie sich jemand der Tür näherte und, ohne Karte und Klingel zu betätigen, einfach eintrat. Der Pförtner bekam davon nichts mit.
Kilian ging weiter, befand sich bereits auf den Stufen, die hin zum Ausgang führten, als eine Durchsage zehn Minuten Pause für die Akteure verkündete.
Stimmt, da war doch noch etwas. Diese seltsame Ankündigung über die Lautsprecheranlage, kurz nachdem der Anschlag auf Raimondi stattgefunden hatte. Kilian bemühte seine Erinnerung. Der exakte Wortlaut wollte ihm nicht einfallen. Es hatte nach einem Rätsel geklungen, vielleicht auch nach einer Drohung. Ich bin … der unsichtbare Herrscher … einer magischen Welt. Genau das war’s. Es klang verdammt theatralisch und hatte gleich gar nichts mit trockenen Pausenankündigungen zu tun. Kilian fragte einen Theatermenschen, der ihm auf dem Gang entgegenkam, wo die Quelle für derartige Durchsagen sei. Er verwies ihn auf die Bühne, an den Inspizientenplatz, dort sollte er nach Jeanne fragen.
Kilian fand sie inmitten einer cockpitgleichen Kanzel, kurz bevor man auf die Bühne gelangt. Sie las in einem Taschenbuch, irgendetwas über einen fiktiven Mord in der Residenz, wie er dem Rückentext entnehmen konnte, aß und trank, während sie sich in einem Drehstuhl in den Schlaf zu wiegen schien.
»Jeanne?«, fragte er.
Sie blickte auf und nickte. Kilian erkannte wache Augen.
»Kann ich Ihnen helfen?«
Er bejahte. »Vor einer Stunde kam über die Lautsprecher eine seltsame Ansage, so was wie ›Ich bin der unsichtbare Herrscher …‹«
»… einer magischen Welt«, führte sie den Satz zu Ende.
»Genau das war’s.«
»Und, was wollen Sie darüber wissen?«
»Ich bin noch nicht lange im Haus, aber die Durchsagen, die ich bisher gehört habe, klangen weitaus nüchterner.«
Sie nickte und blickte verkniffen einer Gruppe von Technikern nach, die an einem Bühnenbild arbeiteten.
»Irgendeiner der Jungs hat mir ’nen Streich gespielt. Ich war nur eine Minute weg, da hörte ich auf der Toilette plötzlich diese seltsame Ansage. Als ich wieder hier war, wollte es natürlich keiner gewesen sein. Ich denke, das Mikro stand offen
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