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Der Gesang der Maori

Der Gesang der Maori

Titel: Der Gesang der Maori Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emma Temple
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fürchtete John, dass er schon
wieder nicht zugehört hatte – aber dann fiel ihm die Essenseinladung ein. Er
zwang sich zu einem Lächeln. »Sicher, ich freue mich drauf! Soll ich irgendetwas
mitbringen?«
    Â»Gute Laune und vielleicht einen Blumenstrauß für meine Frau. Die
mag so etwas«, erklärte Jason. John konnte nur nicken. In diesem Augenblick war
er sich noch nicht einmal sicher, wie er die Zeit bis zum Sonntag herumbringen
sollte – geschweige denn bis nächsten Montag. Wie sollte er sich nur
vorstellen?
    Â»Guten Tag, mein Name ist John Erhardt … nein, ich glaube nicht,
dass wir uns schon einmal begegnet sind …« Konnte er mit so einer dreisten Lüge
einen ganzen Nachmittag bewältigen? Nachdenklich machte er sich auf den
Nachhauseweg. Warum nur holte ihn seine Vergangenheit ausgerechnet in einem
Moment ein, in dem er es endlich geschafft hatte? Dieses Neuseeland war
vielleicht doch zu klein für einen Neuanfang …
    Zum hundertsten Mal sah John auf die Notizen, die er vorbereitet
hatte. Mengen, Volumen, Frequenz – er hatte in den letzten Tagen wirklich alles
berechnet, was mit dem Einsatz eines neuen Kühlfrachters für ihre Zwecke
zusammenhängen konnte. Er hatte sich sogar so ein Ding angesehen, als es in
Auckland angelegt hatte. Hatte sich mit dem Kapitän und mit Offizieren darüber
unterhalten, was wichtig war bei so einem Kühltransport. Es gab so viel zu
bedenken – spielten die Wetterverhältnisse tatsächlich keine Rolle? Welchen
Einfluss hatten die Schwankungen des Preises für den Kraftstoff auch auf den
Fleischpreis? Und: Wer haftete für den Schaden, wenn die Kühlung auf offener
See versagte? Er fühlte sich perfekt vorbereitet und war sich sicher, dass ihn
jetzt keine Frage mehr überraschen konnte. Er schluckte. Das Einzige, wozu er
noch keine Vorstellung hatte, war dieses Wiedersehen mit George Cavanagh. Er
hatte jede Nacht wach gelegen und versucht, sich dieses Treffen vorzustellen,
jede Möglichkeit durchgespielt. Was, wenn sein Ziehvater ihn erkannte? Was,
wenn er es nicht tat? John war so nervös wie noch nie in seinem Leben. In
wenigen Minuten würde er ihn wiedersehen – nach sechs langen Jahren und noch
sehr viel mehr Lügen.
    Er hörte die aufgeregten Stimmen vor dem kleinen Bürohaus am Pier,
das in den letzten Jahren fast so etwas wie eine Heimat für ihn geworden war.
Vorsichtig schob John den Vorhang ein wenig zur Seite. Der Gast der Firma stieg
gerade aus seinem großen, schwarzen Auto. Hochgewachsen, einen Hut tief in die
Stirn gedrückt und mit einer Ausstrahlung, als ob ihm die ganze Welt gehören
würde. Unverkennbar George Cavanagh.
    Unwillkürlich versteckte John sich etwas mehr hinter dem Vorhang.
Der Schweiß rann in Strömen seinen Rücken hinunter, obwohl es nicht einmal ein
heißer Tag war. Nervös rieb er sich das Gesicht. Er würde ihn erkennen – und
seine Nervosität riechen wie ein Hund. Und er würde das auch ausnutzen, ihn an
die Wand spielen und dafür sorgen, dass Jason Turner seine schöne Idee nur
unter erheblichen Verlusten umsetzen konnte. Verluste, die Cavanaghs
Geschäfspartner selbstverständlich ganz allein tragen würde, dafür sorgte ein
George Cavanagh, wann immer sich ihm die Gelegenheit dazu bot. Erneut spähte
John durch das Fenster.
    Genau in diesem Augenblick drehte der alte Cavanagh sich um und
musterte das bescheidene Bürohäuschen, vor dem er stand. Sein Blick fiel auf
den jungen Mann am Fenster, der ihn mit nervösem Blick ansah. Cavanagh runzelte
die Stirn. Woher kamen ihm diese Augen und dieses Gesicht nur bekannt vor? Aber
noch bevor er einen zweiten Blick auf das Gesicht des jungen Mannes werfen
konnte, war der auch schon verschwunden.
    Mit zwei schnellen Schritten entfernte John sich von dem Fenster und
sah sich mit gehetztem Blick um. Er fühlte, wie Panik ihn überwältigte und
jedes Denken verhinderte. Sein Blick fiel auf die Tür zu einer kleinen Kammer –
von hier aus führte ein ebenerdiges Fenster direkt auf den Pier. Ohne lang
nachzudenken, machte John drei oder vier schnelle Schritte und verschwand
dahinter – zur gleichen Zeit hörte er, wie sich die Vordertür öffnete und Jason
seinen Gast ins Innere führte.
    John wollte nur noch eins: fort. Fort von diesem Ort, an dem er
seinem mächtigen Ziehvater entgegentreten musste. Ohne auch

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