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Der Gesang der Maori

Der Gesang der Maori

Titel: Der Gesang der Maori Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emma Temple
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nur eine Sekunde
nachzudenken, schob er das Fenster nach oben, griff in den Fensterrahmen und
schwang sich mit einer einzigen Bewegung nach draußen. Einen Moment lang stand
er atemlos in dem scharfen Wind, der an diesem Tag um jede Ecke pfiff. Dann drehte
er sich um und rannte los. Nur weg von seinem Ziehvater. Erst als er das Ende
einer langen Landungsmole erreicht hatte, blieb er schwer atmend stehen. Und
erst in diesem Augenblick setzte sein Hirn wieder ein. Wie sollte Jason jetzt
erklären, dass sein Fachmann für alles, was mit Frachtern zusammenhing, von
einem Augenblick auf den anderen verschwunden war? Noch vor wenigen Minuten
hatten sie zusammengesessen, hatten heikle Stellen in den Verhandlungen
durchgesprochen und sich eine gemeinsame Strategie für das Gespräch mit dem
mächtigen Reeder ausgedacht. Ein guter Plan. Bis John die Nerven verloren hatte
und einfach weggerannt war – wie ein kleines Kind, das die Strafe seines Vaters
fürchtete.
    Langsam ließ sich John auf eine große Rolle mit Tauen fallen. Er
hatte sein Gesicht verloren. So konnte er Jason nie wieder treffen, da war es
schlicht egal, dass sie am Sonntag miteinander gegessen und gelacht hatten, als
seien sie die besten Freunde. Er hatte keine Ahnung, wie er seinem Boss noch
einmal unter die Augen treten sollte. Er hatte ihn blamiert, da war es mit
einem einfachen »Entschuldige, bitte, aber ich habe die Nerven verloren!« wohl
kaum getan! John stöhnte auf. Schon wieder hatte er seine Zukunft verloren –
und dieses Mal konnte er keiner Naturgewalt die Schuld geben, dieses Mal war er
ganz allein der Verursacher seiner Katastrophe.
    Für einen Moment überlegte er, ob er vielleicht doch noch in das
Büro von Turners & Growers zurückkehren sollte. Aber allein der Gedanke,
seinem Ziehvater gegenüberstehen zu müssen, versetzte sein Herz wieder in einen
rasenden Rhythmus. Mit einem Seufzer entschied er sich dafür, nicht noch einmal
die Begegnung zu suchen. So blieb er einfach sitzen. Der Platz am Ende des
Piers war einsam. Niemand kam vorbei, nur ein paar Möwen kreischten, das Meer
schlug in seinem endlosen Rhythmus an die Mauer, und irgendwann senkte sich
tiefe Dämmerung und schließlich die Nacht über ihn.
    Nach einer Weile stand John wieder auf. Er hatte Hunger, er hatte
Durst, und er konnte seine Bedürfnisse nicht für immer unterdrücken. Auf dem
Weg in die Stadt kam er an dem Bürohaus vorbei. Es lag dunkel und verlassen da,
leise fragte John sich, welche Szenen sich in diesem Haus wohl am Nachmittag
abgespielt haben mochten. Er kannte seinen Ziehvater gut genug, um zu wissen,
dass er keine Schwäche ungenutzt verstreichen ließ. Wenn Jason auch nur ein
bisschen unsicher gewesen war, dann hatte Cavanagh das ganz sicher für sich ausgenutzt.
John seufzte. Er hätte Jason von Anfang an die Wahrheit sagen sollen, dann
würde sein Leben jetzt nicht komplett in Scherben liegen.
    Gerade als er sich zum Gehen wandte, sah er, dass da doch noch ein
schwaches Licht in einem Fenster brannte. Nur eine leise vor sich hin flackernde
Kerze in dem Büro von ihm und Jason. Neugierig ging er näher und spähte durch
die Scheiben. Jason saß an seinem Schreibtisch, den Kopf schwer in die Hände
gestützt. John klopfte an das Fenster. Erschrocken hob Jason den Kopf, sah ihn
und schien mit einem Mal wieder alles andere als müde und erschöpft. Herrisch
winkte er ihm zu hereinzukommen. Als Jason Sekunden später in das Zimmer kam,
trat eine Ader an Jasons Schläfe hervor. Er vergeudete keine Sekunde mit Höflichkeitsfloskeln.
    Â»Ich habe dich aus der Gosse gezogen, und dir fällt nichts Besseres
ein, als mich an einem so wichtigen Tag in meinem Leben einfach alleinzulassen?
Weißt du eigentlich, wie peinlich das Treffen mit diesem Cavanagh dank deiner
Flucht war? Wann immer er irgendetwas wissen wollte, konnte ich nur hilflos
etwas von Dingen, die wir noch klären müssen, faseln. Du hast dafür gesorgt,
dass ich in diesem Meeting wie ein kleiner Junge vorgeführt wurde … Hast du
denn überhaupt irgendetwas zu deiner Entschuldigung hervorzubringen? Hat dich
einer der anderen Spediteure bezahlt? Hast du etwas getrunken? Wolltest du mir
schaden?« Seine Stimme wurde lauter, den letzten Satz schrie er John ins Gesicht:
»Was zum Teufel hast du dir gedacht? Hast du überhaupt etwas gedacht?«
    Wie benommen schüttelte John den Kopf

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