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Der Gesang der Maori

Der Gesang der Maori

Titel: Der Gesang der Maori Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emma Temple
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versuchte ein Grinsen. »Aber jetzt habe ich genug von mir
geredet – jetzt will ich auch etwas von dir wissen: Woher kommt deine Familie?
Warum ist die so schrecklich, dass du sie unbedingt hinter dir lassen willst
und darauf erpicht bist, einen kompletten Ozean zwischen euch zu bringen?«
    Â»Meine Mutter hat mich verlassen, als ich zwei Jahre alt war, und
hat in ihrer Heimat ein neues Leben gefunden. Mein leiblicher Vater starb noch
früher bei einem Unglück. Und mein Ziehvater wusste nicht viel mit mir
anzufangen. Ich noch weniger mit ihm. Ich bin mit neunzehn von zu Hause
weggelaufen. Seitdem habe ich ihn nur einmal gesehen und bin verschwunden, noch
bevor er mich erkennen konnte. Du siehst: Familie ist bei mir Fehlanzeige.« Er
bemühte sich sehr, nicht zu bitter zu klingen – aber er sah in ihrem Gesicht,
dass ihm das nicht gelang. Sie legte ihm eine Hand auf den Arm. Er registrierte
erstaunt, dass sie sogar kleine Hände hatte – alles an Paikea war zierlich.
Dann erst bemerkte er, dass ihr Tränen in den Augen standen.
    Â»Das ist das Traurigste, was ich seit langer Zeit gehört habe. Wer
nimmt dich in den Arm, wenn du traurig bist, wer hört sich deine Probleme an,
und wer teilt deine Träume und Hoffnungen? Du musst so schrecklich einsam sein
…« Sie schüttelte den Kopf und sah schon bei der Vorstellung seiner Einsamkeit
traurig und verlassen aus.
    Â»Nun, es gibt Freunde, die können so eine Familie durchaus ersetzen.
Und es ist nicht so, dass ich jeden Tag in mein Kissen weine, weil ich so
allein bin. Immerhin habe ich auf diese Weise auch keine Verpflichtungen, mir
kann niemand das Leben schwermachen. Ich muss für niemanden in eine Stadt, in
die ich nicht will!« Er sah in ihren Augen, dass sie seiner Erklärung keine
Sekunde lang glaubte.
    Â»Du musst meine Familie kennenlernen! Sie sind schrecklich, sie sind
zu laut, sie wissen alles besser, sie können allesamt nicht länger als zehn
Minuten ruhig sitzen bleiben … aber sie sind das Liebevollste, was ich je
kennengelernt habe. Du wirst sie lieben!« Es schien ihr wirklich wichtig zu
sein. »Ich will, dass du einmal siehst, was Familie sein kann.«
    Zögernd nickte John. »Wenn du darauf bestehst …«
    Sie fiel ihm um den Hals und drückte ihm einen Kuss auf die Wange.
»Dann ist es also abgemacht? Am Sonntagabend. Ich hole dich von deinem Motel
ab. Dann hast du in den USA wenigstens etwas, woran
du denken kannst, wenn du einsam bist. In Ordnung?«
    Ihre Begeisterung war ihm fremd. Aber seine Wange brannte für den
Rest des Abends, er konnte ihre Lippen auf seiner Haut noch lange spüren. Er
wollte es sich nicht eingestehen, aber er hatte sich verliebt. Zum ersten Mal
seit dem Verlust von Inge fing sein Herz an zu klopfen, wenn er an eine Frau
dachte. Paikea mit ihrer ernsten Art, ihren tiefgründigen Überlegungen zu
allem, was sie tat, faszinierte ihn. Sie wirkte auf ihn wie eine Naturgewalt,
wie eine der Vorfahrinnen der Maori – eben ganz und gar eines der mythischen
Wesen, das einen Wal geritten hatte. Sie schien mit ihren Wurzeln eins zu sein,
war im Einklang mit Vergangenheit und Zukunft. Und er wollte mit ihr zusammen
sein – vielleicht war das ja leichter, nachdem er ihre Familie kennengelernt
hatte. So sehr, wie sie an all ihren Geschwistern hing, war es sicherlich
wichtig, dass er sich mit ihnen gut vertrug. Insgeheim fragte er sich
allerdings, ob ihn diese Familie wirklich willkommen heißen würde. Immerhin
weigerte Paikeas Mutter sich sogar, auch nur für die Weißen zu arbeiten. Ob sie
da mit einem weißen Freund ihrer Tochter einverstanden war?
    Die Frage beantwortete sich am darauffolgenden Sonntag innerhalb weniger
Sekunden. Paikeas Mutter musterte ihn mit zusammengekniffenen Augen, bevor sie
sich an ihre Tochter wandte: »John Erhardt. Weißt du wenigstens, seit wie
vielen Generationen er in diesem Land unser Volk schon unterdrückt?«
    Paikea stellte sich unauffällig vor John – sie tat das sicher
unbewusst, denn sie war so klein, dass sie ihm kaum an die Brust reichte.
Trotzdem wirkte die Geste beschützend. »Johns Familie kann man kaum einen
Vorwurf machen. Seine Mutter war nur wenige Jahre in Neuseeland, sein Vater ist
schon gestorben – damit sollte er genug gebüßt haben; seine Sünden an uns sind
vergeben. Könntest du dich jetzt bitte auf deine guten Manieren besinnen

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