Der Gesang der Maori
stieà einen leisen Schrei aus, als ein breitschultriger,
groÃer Mann im Türrahmen an der Terrasse auftauchte. Im Gegenlicht konnte sie
sein Gesicht nicht erkennen, aber seine Haltung wirkte angespannt.
»Wer sind Sie?« Ihre Stimme klang ängstlich.
»Ich bin es. John!« Der Mann machte zwei Schritte in den Raum. Sie
sah ihn prüfend an. Aus dem weichen, ovalen Jungengesicht, an das sie sich so
gerne erinnerte, war ein kantiges Männergesicht geworden. Die Nase ein wenig
schief, am Kinn eine kleine Narbe, die Haut gebräunt, wie bei einem Mann, der
viel in der Sonne arbeitete. Dazu hatte die Sonne die blonden Haare so sehr
ausgebleicht, dass sie fast weià waren. Die leuchtend blaugrünen Augen lieÃen
keinen Zweifel daran zu, wer da vor ihr stand.
Sie lächelte. »John. Du bist wieder hier. Und ich habe schon
befürchtet, dass dein Besuch vor ein paar Jahren dein letzter Auftritt hier in
Charteris Bay war â¦Â« Fiona zögerte kurz, dann nahm sie John kurzerhand in den
Arm. Eine Geste, zu der sie sich kaum je durchgerungen hatte, als er noch ein
kleiner Junge war â der alte Cavanagh hatte das streng verboten. Jetzt war er
nicht in der Nähe â und es gab wohl auch kaum noch die Gefahr, dass sie diesen
Mann verweichlichte. Einen Augenblick lang spürte sie seine Ãberraschung,
seinen steifen Rücken, dann entspannte er sich und erwiderte ihre Umarmung.
Danach schob er sie auf Armeslänge von sich weg und sah sie an.
»Du hast dich überhaupt nicht verändert, Fiona!«
Sie lachte verlegen. »Doch, habe ich. Ich werde allmählich zu einer
wunderlichen alten Jungfer, die ihren einzigen Lebensinhalt darin sieht, deinem
Vater und deinem Bruder zu Diensten zu sein.« Sie griff nach seinen Händen und
zog ihn in Richtung Küche. »Komm, erzähl, wie es dir ergangen ist â und ich
mache dir einen schönen Tee dazu.«
Bereitwillig lieà sich John in die Küche führen. Es fühlte sich
alles merkwürdig vertraut an, auch wenn es Jahre her war, dass er hier ein und
aus gegangen war. Er sah sich schweigend um, während Fiona mit dem Kessel und
der alten, schwarzen Kanne hantierte. Erst als er einen langen Schluck von dem
heiÃen Gebräu genommen hatte, fing er an zu reden. »Bevor ich von mir erzähle,
will ich unbedingt wissen, wie es Ewan ergangen ist. Was hat er nach der Schule
getan?«
»Nach eurem unglückseligen letzten Gespräch? Als du ihm im
Handstreich die Hälfte der Reederei geschenkt hast?«
John nickte.
»Nun, er hat sich darauf eingestellt, der Alleinerbe der Pacific
Shipping Company zu werden. Er hat direkt bei eurem Vater angefangen zu
arbeiten, hat sich auch wirklich ganz auf seine neuen Aufgaben eingelassen.
Ewan war sich für nichts zu schade, er hat Akten sortiert, war sogar ein halbes
Jahr lang drauÃen an den Docks, um zu verstehen, was eigentlich mit den
Schiffen passiert. Irgendwann ist er auch nach Europa mitgefahren â aber ich
habe das Gefühl, dass ihm das Leben an Bord und unter Matrosen nicht gefallen
hat. Kann natürlich auch sein, dass er als Sohn des Besitzers wenig zu lachen
hatte â¦Â«
Eingedenk seiner eigenen Erfahrungen an Bord der Pacific Maiden
konnte John an dieser Stelle nur nachdrücklich nicken. Nein, Ewan hatte
garantiert keinen Spaà gehabt. Und Matrosen beschränkten sich weià Gott nicht
nur aufs Verprügeln; es gab jede Menge Möglichkeiten, einem anderen das Leben
schwer zu machen. Allein die Erinnerung lieà in Johns Nase wieder den scharfen
Geruch nach Urin und Schweià aufsteigen. Er schüttelte den Kopf, um die
Erinnerung zu vertreiben. »Und dann?«
»Als Nächstes hat er den Mitarbeitern in der Buchhaltung über die
Schulter gesehen â und sich dabei wohl sehr geschickt angestellt. Es dauerte
nur ein paar Wochen, bis er Fehler entdeckt, Verbesserungen eingeführt und den
älteren Mitarbeitern in der Buchhaltung das Leben schwer gemacht hat. Eine der
Frauen hat sogar gekündigt, weil sie sich von so einem Jungspund nichts sagen
lassen wollte.«
»Das sieht Ewan ähnlich«, lachte John. »Er hat doch schon die
Lehrerinnen mit seiner Besserwisserei auf die Palme getrieben! Und heute?«
»Leitet er die Buchhaltung. Keine Rechnung und kein Gehalt, die
nicht über seinen Tisch gehen. Dein Vater behauptet, dass er noch nie einen so
guten Buchhalter hatte wie Ewan. Ich
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