Der Gesang der Maori
wütend â und hatte beschlossen, dass John ein Versager war, der
vor den Problemen davongerannt war. Er wollte schon etwas Gehässiges sagen und
mit einem Fluch gehen, als ihm klar wurde, dass er damit wohl die letzte Tür zu
seiner Familie und damit zu seiner eigenen Kindheit zuschlagen würde. Hier war
er der Ãltere, er musste vernünftig sein. Er machte noch einen Schritt auf Ewan
zu und legte ihm eine Hand auf den Arm. »Ich verstehe, dass du wütend bist. Ich
bin zu lange nicht hierhergekommen. Das lag nicht an dir â und auch nicht immer
an mir. Es ist schon fast ein Jahr her, dass ich kommen wollte. Aber dann ist
ein Unglück passiert, an das ich bis heute nicht denken mag und über das ich
nicht reden kann. Das soll keine Ausrede sein. Ich will nur sagen, dass nicht
immer alles so glatt und perfekt läuft, wie wir uns das in unseren
Kinderträumen vorstellen. Jetzt lebe ich in Auckland, ich habe Freunde â¦Â«
»Sehen die alle so aus wie du?« Ewan war noch nicht überzeugt. »Und
riechen die alle so streng? Dann kann man auf diese Freunde wohl kaum stolz
sein, oder?«
Nach der Nacht in dem zugigen Unterstand am Strand hatte Ewan
wahrscheinlich recht. John fiel ein, dass er auch vor seinem Aufbruch in
Auckland nicht geduscht hatte. Das Geld für eine Reinigung seiner Hose und
seines Hemdes hatte er sich auch gespart, es lieber für ein Bier in der Milkbar
ausgegeben. Er fuhr sich durch die Haare. Die Brillantine verklebte die Haare,
sie waren jetzt nur noch dreckig. Er seufzte.
»Es mag dir nicht so vorkommen, aber ich führe kein schlechtes Leben
⦠Es mag im Moment ein bisschen schwierig sein, aber im Grunde ist es gut so,
wie es ist.«
»Brauchst du etwa Geld? Bist du deswegen gekommen? Du siehst aus wie
eine dieser Gestalten, die um Geld betteln.« Ewans dunkle Augen sahen ihn
abfällig an. »Du kannst es ruhig sagen. Ich helfe dir gerne.«
Auf einen Schlag wollte John unbedingt ein Bier. Oder etwas
Stärkeres. Einen Schnaps. Rum oder etwas Selbstgebranntes. Diese
Ãberheblichkeit seines kleinen Bruders war unerträglich. Da hatte er Ewan
jahrelang vor dem Zorn des Vaters geschützt â und nun behandelte ihn Ewan wie
Abschaum aus der Gosse der GroÃstädte. Musste er Ewan erst an seine
Vergangenheit erinnern?
»Bevor du mir Geld gibst â und das nehme ich gerne, danke! â, will
ich von dir wissen, wie dein Vater dich behandelt. Hat er inzwischen begriffen,
dass er nur noch dich hat? Was hast du vor? Oder wahrscheinlich sollte ich
fragen: Was hat er mit dir vor?«
Ewan zuckte mit den Achseln. »Ich werde in einer hoffentlich sehr
fernen Zukunft die Shipping Company von meinem Vater übernehmen. Wenn mein
Bruder nicht mehr auftaucht, um seinen Teil des Erbes für sich zu
beanspruchen.« Er sah ihn lauernd an. »Wirst du das tun?«
John winkte ab. »Kannst du behalten. Von George Cavanagh möchte ich
nichts haben.«
Ewan schwieg etwas verblüfft. Mit dieser Antwort hatte er nicht
gerechnet. »Wirklich? WeiÃt du, was du da in den Wind schlägst?«
»Ja. Ein Vermögen, das auf Boshaftigkeit und der Ausbeutung von
Menschen beruht. Davon möchte ich nichts haben.« John sah seinem Bruder herausfordernd
in die Augen. Wenn der ihm klarmachte, dass er zum Abschaum gehörte, dann
musste er ihm wohl zu verstehen geben, dass er ein Erbe, das auf der brutalen
Ausbeutung von Seeleuten beruhte, annahm.
Ewan drehte sich um und verschwand wortlos. Keine Minute später kam
er wieder und drückte John einen Stapel Geldscheine in die Hand.
»Das ist alles, was ich gespart habe in den letzten Jahren. Fast
fünfhundert Pfund. Ich hoffe, du kannst dir damit etwas Neues aufbauen. Etwas,
das du nicht so sehr verachtest wie den Mann, der dich aufgezogen hat.« Ewan
sah ihn herausfordernd an.
John zögerte. Er nahm das Geld, faltete es sorgfältig zusammen und
steckte es in die Tasche. Er wählte die Worte für seine Antwort mit Bedacht.
»Ich verspreche dir, dass ich damit etwas Gutes anfange. Genauso verspreche ich
dir, dass ich immer wieder nach dir sehen werde. Bitte, lass nicht zu, dass
dein Vater uns entzweit.«
»Und wie kann ich dich erreichen, wenn ich dich mal brauche?« Die Frage
platzte aus Ewan geradezu heraus. Zum ersten Mal klang er wie der kleine
Bruder, der von seinem groÃen Bruder zurückgelassen wurde. »Es kann doch
Weitere Kostenlose Bücher