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Der Gesang der Maori

Der Gesang der Maori

Titel: Der Gesang der Maori Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emma Temple
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übrig, als ein Motel zu suchen. Oder – in Anbetracht
seiner Finanzen – vielleicht besser eine unbenutzte Schafschererhütte oder
einen Unterstand, in dem er es sich für die Nacht gemütlich machen konnte. Er
hatte Glück: In einer kleinen Hütte, die wohl Fischern ab und zu als Unterkunft
diente, fand er ein trockenes, geschütztes Plätzchen. Er legte sich auf die
Bank und war schon fast eingeschlafen, als sich der Hütte Schritte näherten.
John fuhr auf und lauschte in die Nacht. Zwei Männer unterhielten sich.
    Â»Was willst du in der alten Bude übernachten? Nach Hause ist es
nicht mehr weit!«, murrte der eine. Er hatte eine tiefe, grollende Stimme.
    Â»Und was soll ich da? Meiner Frau erklären, dass wir nichts mehr
fangen? Das Geld leider knapp wird? Die Wale werden heutzutage woanders erlegt.
Nicht mehr hier vor dieser Küste!« Der andere klang ärgerlich und sprach mit
einem breiten Akzent, den John nicht zuordnen konnte.
    Â»Ob du deiner Frau heute oder morgen erzählst, dass es erst einmal
kein Geld gibt, macht keinen Unterschied«, grollte wieder der Erste. »Und ich
habe keine Lust, auch nur eine Nacht auf mein bequemes Bett zu verzichten. Wenn
ich es vermeiden kann, dann benutze ich keine Unterstände, Zelte oder
Hängematten. Los, wir gehen heim.«
    Die schweren Schritte der beiden entfernten sich wieder. John atmete
langsam aus und spürte, wie sich die angespannten Muskeln in seinem Rücken
wieder lockerten. In diesem Augenblick hätte er alles für ein kaltes Bier
gegeben, aber der nächste Kühlschrank war ebenso weit wie die nächste Kneipe.
Etwas zu essen wäre auch nicht schlecht gewesen … aber er hatte vergessen, sich
im Laufe des Tages etwas zu kaufen. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als
die Augen zu schließen und sich von dem leisen Gesang des Windes in den
Strandgräsern in den Schlaf singen zu lassen. Um die beiden Besucher, die ihn
fast gestört hätten, machte er sich weiter keine Gedanken. Was sollte er sich
um erfolglose Walfänger kümmern? Er hatte bis zu diesem Zeitpunkt nicht einmal
gewusst, dass hier in der Gegend noch Walfang betrieben wurde. Als er
einschlief, dachte er an alles Mögliche – meistens an Bier, aber ganz sicher
nicht an Wale. Völlig unbemerkt von ihm zogen direkt vor der Küste eine große
Pottwalkuh und ihr Kalb vorüber, ihr lauter Atem mischte sich mit dem Singen
des Windes. Aber John schlief schon fest und traumlos.
    Er wachte mit knurrendem Magen auf. Fast vierundzwanzig Stunden ohne
etwas Festes zu essen – das machte ihm ernsthaft zu schaffen. Durst hatte er
auch. Ein Bier zum Frühstück klang verlockend, aber in dieser Sekunde hätte ihm
auch ein Kaffee oder einfach nur klares Wasser geschmeckt. Tatsächlich hatte er
nichts, nur einen Blick auf den endlosen Pazifik mit seiner gewaltigen
Brandung.
    Schnell machte er sich wieder auf den Weg zur Hauptstraße. Sein
Reiseglück blieb ihm treu, wieder nahm ihn ein Farmer mit nach Süden. Es war
später Nachmittag, als er Charteris Bay erreichte – knapp zwei Jahre nachdem er
die Stadt verlassen hatte.
    Er sah sich neugierig um. Die Häuser lagen immer noch malerisch am
steilen Hang und auf den Klippen, Bäckerei, Metzgerei und der Milchladen
drängten sich wie eh und je so eng aneinander, als ob sie sich gegenseitig vor
dem ständigen Wind des Pazifiks schützen müssten. Die Grundschule lag
verlassen, die Kinder waren an diesem Tag alle schon nach Hause gegangen.
    Langsam folgte John der Straße, die bergauf führte, bis er fast den
höchsten Punkt des Ortes erreicht hatte. Vor ihm lag das herrschaftliche Haus
seines Ziehvaters, hier war John mit einem atemberaubenden Blick auf das Meer
aufgewachsen. Er schlüpfte durch das schwere Eisentor und hinter einen alten
Eukalyptusbaum. Er lehnte sich gegen das glatte Holz und genoss für einen Augenblick
die Aussicht. Das türkisgrüne Wasser mit den kleinen Schaumkronen, auf denen
die unterschiedlichsten Boote tanzten. An diesen Ort hatte er sich seine ganze
Kindheit über verkrochen, wenn sein Ziehvater ihm wieder einmal nichts außer
Prügel zu bieten hatte, ihm immer wieder erklärt hatte, dass er ein kompletter
Nichtsnutz sei. Langsam streichelten seine Finger über den Baum. Merkwürdig,
dass sich sein ganzes Leben auf den Kopf gestellt hatte, sich hier aber nichts
verändert

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