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Der Gesang der Orcas

Der Gesang der Orcas

Titel: Der Gesang der Orcas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Babendererde
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gerade. Es erschreckt mich, wie schnell so etwas gehen kann.«
    Ich rutschte ein Stück aus dem Sessel. »Was kann schnell gehen, Papa?«
    Â»Dass aus meinem kleinen Mädchen eine junge Frau wird.«
    Er klang auf einmal nicht mehr verärgert, nur verwirrt. Und ich war auch durcheinander. Hatte ich mich tatsächlich so verändert? Ich selbst spürte davon nichts. Auch der Spiegel zeigte es mir nicht. Ich wusste nur, dass ich dauernd an Javid denken musste. An seinen Kuss und an die Dinge, die er mir gesagt und gezeigt hatte. Und wenn ich an Javid dachte, konnte ich nicht an Mama denken. Fast bekam ich deswegen ein schlechtes Gewissen.
    Â»Komm mal her zu mir!«, bat mein Vater mit versöhnlicher Stimme und streckte seine Hand nach mir aus. Das war etwas, das ich auch nicht an ihm mochte. Ich saß und er stand. Wenn er etwas von mir wollte, warum kam er dann nicht? Warum forderte er mich auf zu ihm zu kommen, damit er mich umarmen konnte? Mama hatte das nie gemacht. Sie war immer zu mir gekommen, egal, wo ich gerade stand oder wohin ich mich verkrochen hatte.
    Aber weil ich froh war, dass Papa mir nicht mehr grollte, und weil sie ihm heute einen Zahn gezogen hatten, stand ich gehorsam auf und ging zu ihm. Er drückte mich an sich. Wahrscheinlich wollte er mir damit zeigen, dass er mir verzieh, dass er für mich da war. Aber in Wirklichkeit war ich für ihn da. Er war mir kein Halt, nein, er war es, der sich an mir festhielt. Das wurde mir in diesem Augenblick klar.
    Vielleicht hatte er Recht und ich war tatsächlich dabei, mich zu verändern. Vielleicht lag das an dem Kuss, den ich von Javid bekommen hatte. Oder daran, dass er mich Sofie genannt hatte, auch wenn es nur ein einziges Mal vorgekommen war.
    Â»Auf der Rückfahrt habe ich in Clallam Bay ein nettes Austernrestaurant entdeckt«, sagte Papa, nachdem er mich wieder losgelassen hatte. »Ich lade dich zum Abendessen ein.«
    Â»Kannst du denn schon wieder was essen?«, fragte ich stirnrunzelnd. Eigentlich hatte ich keine Lust, essen zu gehen.
    Â»Austern kaut man nicht«, meinte er mit einem schiefen Lächeln. »Austern schlürft und schluckt man. Außerdem habe ich jetzt richtigen Hunger. Muss an der Meeresluft liegen.«
    Papa wusste genau, dass ich kein Austernfan war. Aber weil er mir nicht mehr grollte, wollte ich mich gleichfalls von der versöhnlichen Seite zeigen und ihm nicht den Abend verderben. In diesem Restaurant gab es sicher auch einfachen Fisch. »Okay«, sagte ich, darauf bedacht, fröhlich zu klingen. »Ich will nur schnell duschen und etwas anderes anziehen.«
    Bis nach Clallam Bay waren es ungefähr 20 Meilen. Papa parkte den Chevy vor »Eddies Austern Bar«. Es war ein altes Gebäude, verkleidet mit blau gestrichenen Holzschindeln. Auf der Rückseite hatte es eine glasverkleidete Veranda, von der aus man über die Seestraße von Juan de Fuca bisnach Kanada sehen konnte.
    Wir bekamen einen Tisch direkt hinter der großen Scheibe zugewiesen.Das war eine merkwürdige Sitte in Amerika: Selbst in einem ganz normalen Lokal durfte man sich nicht einfach setzen, auch dann nicht, wenn sämtliche Tische frei waren. Man musste brav am Eingang stehen bleiben und warten, bis man vom Personal einen Platz zugewiesen bekam.
    Der Kellner, ein glatzköpfiger, magerer Mensch mit einem Raubvogelgesicht, brachte uns die Speisekarte. Das Angebot an Speisen war nicht sonderlich ausgiebig, deshalb hatten wir schnell gewählt. Ich entschied mich für gebackenen Thunfisch mit Folienkartoffeln und mein Vater natürlich für frische Austern. Mit einem missmutigen Lächeln nahm der Kellner unsere Bestellung entgegen.
    Â»Vielleicht hat er heute Post vom Finanzamt bekommen«, meinte Papa achselzuckend, als der Mann wieder in der Küche verschwunden war.
    Â»Vielleicht mag er aber auch keine Gäste«, entgegnete ich.
    Â»Dann sollte er schleunigst den Job wechseln.«
    Das war typisch für uns beide. Es gab so viel zu sagen und wir redeten über nichts. Darin waren Papa und ich Weltmeister.
    Mein Vater hatte immer noch ein verformtes Gesicht, aber im Gegensatz zu heute Morgen war die Schwellung schon deutlich zurückgegangen. »Wird es langsam besser?«, fragte ich ihn.
    Â»Ja. Der Zahn war vereitert und nicht zu retten. Nun heilt alles. Ich habe Antibiotika bekommen.«
    Â»Hattest du Angst?«
    Papa lächelte über meine Frage. »Ein

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