Der Gesang des Blutes
Anschlag. Und endlich entfaltete das Gift seine Wirkung – nach einer doppelt so großen Zeitspanne wie üblich.
Radduk erstarrte und gab einen merkwürdigen Grunzlaut von sich. Noch nie hatte Robert jemanden derart gegen das Gift kämpfen sehen. Letztlich war das Azepromazin aber doch stärker. Radduk geriet ins Straucheln. Er tat einen Schritt nach vorn, stolperte über Svens Beine und fiel. Mit dem Gesicht voran gegen den heißen Ofen. Ohne sich abzustützen, rutschte er mit der Wange daran hinab. Sofort zischte und brutzelte es, und ein abartiger Gestank erfüllte die Hütte. Schließlich schlug er auf dem Boden auf.
Stille. Roberts Herz raste, sein Atem ging stoßweise. Er saß mit dem Rücken gegen die Tür gelehnt, hielt die Betäubungspistole auf den reglos daliegenden Radduk gerichtet und zitterte. Zitterte am ganzen Körper. Auch innerlich, wie es ihm schien. Erst als Sven mühsam auf die Beine kam, erwachte Robert aus der Starre. Er sah, wie Sven den Revolver aufnahm und auf Radduks Kopf zielte.
«Du … du blöde Sau.»
«Sven!»
Er sah ihn an. Tränen der Schmerzen standen in seinen Augen.
«Lass es. Er stirbt ohnehin. Niemand überlebt die zweifache Dosis.»
Svens Augen wanderten ein paarmal zwischen Robert und Radduk hin und her, dann ließ er den Revolver fallen. Er umklammerte seine Hand und lehnte sich gegen die Holzwand der Hütte. «Du blöde Sau», sagte er wieder. Es klang gequält.
7
Kristin verließ das Haus und zog den Reißverschluss ihrer Jacke bis unters Kinn zu. Die Nacht war kühl gewesen, deutlich unter zehn Grad, und noch am Mittag lag ein dünner, fein glitzernder Film aus unzähligen winzigen Wasserperlen auf Blättern, Halmen und Zweigen. In den Wetternachrichten hatten sie für die kommenden Tage den ersten Frost angekündigt. Die bleierngraue Wolkendecke war den ganzen Vormittag nicht aufgerissen; es herrschte ein merkwürdiges, bedrückendes Zwielicht, in dem Kristin sich wie in Watte verpackt fühlte. Ein Gefühl, das sie in den letzten vierzehn Tagen seit Toms Beerdigung ständig umgab und von dem sie instinktiv wusste, dass sie es nur aus eigener Kraft würde abschütteln können. Diese Kraft hatte sie jedoch nicht. Außerdem hielt dieses Gefühl den Alltag fern. Alles um sie herum schien in einer anderen Welt zu geschehen, wofür sie mitunter sogar dankbar war.
Sie stand auf dem Hof und sog die kühle Luft tief ein. Es war still. Eine Stille, die es in der Stadt nicht mal nachts gegeben hatte. Zum ersten Mal seit der Beerdigung war sie allein. Ilse, die sich entschieden hatte, für ein oder zwei Monate bei ihr zu bleiben, «bis sich alles eingerenkt hat» (als ob man Toms Tod wieder einrenken könnte wie ein ausgekugeltes Schultergelenk), war mit Lisa nach Barsenbrück gefahren. Sie wollten ein Geburtstagsgeschenk kaufen. Am kommenden Sonntag war ihr Ehrentag, und Kristin befürchtete, dass es der traurigste ihres Lebens werden würde.
Sie ging an der gewaltigen, beinahe kahlen Kastanie vorbei in den hinteren Teil des Gartens. Dort grenzte ihr Grundstück an einen wild verwucherten Wald, um den sich offenbar seit Jahren niemand mehr gekümmert hatte. Als Kristin den Waldrand fast erreicht hatte, hörte sie es. Dieses Geräusch. Dieses mahlende Geräusch des Schotters unter Autoreifen. Bis in den letzten Winkel des Hauses vermochte sie es zu hören, gleichwohl drang es bis in den letzten Winkel ihres Körpers. Es klang, als fletsche ein unglaublich großes, unglaublich hässliches Tier die Zähne. Ohne dass sie etwas dagegen tun konnte, begann ein Räderwerk in Kristins Kopf zu rattern.
Ilse und Lisa sind mit dem Cherokee unterwegs … mit dem Wagen … ein Unfall, es hat einen Unfall gegeben, ich weiß es …
Kristin rannte nach vorn. Ihr Herz pochte wild und hart, der Weg bis vors Haus kam ihr unendlich lang vor. Wie in einem Traum, in dem sie rennen will, ihre Füße aber in etwas Zähem stecken bleiben, hatte sie den Eindruck, nicht vorwärtszukommen. Schließlich erreichte sie aber doch die Hausecke und stoppte abrupt. Ein blauer Opel Astra parkte vor der Garage. Daneben stand die Frau, die sie aus dem Edeka-Laden im Dorf kannte. Sie winkte ihr zu.
«Frau Merbold, schön dass … Geht es Ihnen nicht gut? Stimmt was nicht?»
Kristin atmete hechelnd, und wenngleich die Anspannung ebenso schnell von ihr abfiel, wie sie sich aufgebaut hatte, sah sie vermutlich zu Tode erschrocken aus. Bei Gott, sie war zu Tode erschrocken! Ihr Herz schlug Kapriolen, die einen
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