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Der Gesang des Blutes

Der Gesang des Blutes

Titel: Der Gesang des Blutes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Winkelmann
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sonderbares Interesse am Keller kitzelte an dieser Erinnerung, konnte sie aber nicht wieder lebendig machen. Als Kristin mit dem beladenen Tablett ins Wohnzimmer kam, stand ihr Gast vor dem Regal mit Pokalen und versuchte, die winzigen Inschriften auf den vergoldeten Plättchen zu lesen.
    «Sind das Ihre? Was steht dort? Ohne meine Brille kann ich es nicht entziffern.»
    Kristin stellte das Tablett auf dem Tisch ab. «Die habe ich beim Voltigieren gewonnen. Den großen für den dritten Preis bei der Deutschen Meisterschaft, die beiden kleineren für erste Plätze bei lokalen Wettbewerben.»
    «Voltigieren? Ich weiß nicht mal, was man da macht.»
    «Um es ganz einfach auszudrücken: Turnübungen an einem galoppierenden Pferd.»
    «Und das haben Sie gemacht?»
    Sie setzten sich auf die Couch. «Ja, vom siebten bis zum sechzehnten Lebensjahr. Dann zogen wir in die Stadt, und ich habe aufgehört.»
    «Schade. Ein dritter Preis bei der Deutschen Meisterschaft ist doch eine tolle Leistung.»
    «Ja, schon …» Kristin zuckte mit den Schultern und hielt einen Moment inne. «Das war auch ein Grund, warum wir hierhergezogen sind. Das Grundstück ist groß genug für ein paar Pferde.»
    Und der Traum ist nun ausgeträumt. Kristin wusste nicht, ob sich das jemals ändern würde, doch im Moment hatte alles seinen Sinn verloren – ohne Tom. Ihr Wunsch, eigene Pferde zu halten, den Garten zu gestalten, eine Koppel anzulegen … und ein bisschen auch das Haus selbst.
    Kristin gab sich einen Ruck, hörte auf, Toms Ehering an ihrem Finger zu drehen, griff zur Thermoskanne und schenkte Kaffee ein. Sie setzten sich und tranken.
    «Wir können uns übrigens gerne duzen», sagte Hanna, «schließlich sind wir Nachbarn.»
    Kristin war überrascht. «Natürlich, gern, ich bin Kristin!»
    «Und ich heiße Hanna … das Anstoßen geht auch mal mit Kaffee, oder?» Sie prosteten sich zu und tranken. Dann stellte Hanna ihre Tasse ab und sah sich noch einmal im Wohnzimmer um.
    «Ihr habt das Haus sehr schön hergerichtet, wirklich, gefällt mir gut. Vor allem der Kamin ist eine Augenweide.»
    «Den hat mein Mann selbst entworfen und gemauert.»
    «Er war Architekt, nicht wahr? Er muss sehr talentiert gewesen sein.»
    «Ja, das war er.»
    Hanna räusperte sich. «Ich hoffe, es ist nicht zu indiskret, aber … wirst du hierbleiben?»
    «Ja, ich denke schon», sagte Kristin, und der Nachdruck in ihrer Stimme war mehr für sie selbst bestimmt denn für Hanna. Sie liebte das Haus, immer noch, aber ohne Tom war es nicht mehr dasselbe.
    «Schön, das freut mich. Wenn du Hilfe brauchst, sag einfach Bescheid. Ich kenne jeden im Dorf, sind alles hilfsbereite Menschen. Man muss sie nur zu nehmen wissen.»
    «Lebst du schon immer in Althausen?»
    «Oh ja», sagte Hanna und stellte ihre Tasse auf dem Tisch ab. «Ich bin hier geboren und aufgewachsen. Unsere Familie lässt sich bis zu den ersten Wittmershaus zurückverfolgen. So um 1880 haben meine Urahnen hier einen Krämerladen gegründet. Wenn man es nicht so genau nimmt, besteht der Laden schon an die hundertzwanzig Jahre. Er war nicht immer an dem Platz, wo er jetzt ist, und während des Zweiten Weltkrieges gab es ihn ein paar Jahre gar nicht, aber bisher war er nicht tot zu kriegen …», Hanna zögerte kurz. «Leider habe ich keine Kinder, also werden sich die Wittmershaus in absehbarer Zeit aus Althausen zurückziehen.»
    Kristin lag die Frage nach ihrem Mann auf der Zunge, doch sie stellte sie nicht. Wahrscheinlich war er tot, und Kristin hatte keine Lust, über zu früh verstorbene Ehemänner zu sprechen.
    «Dann kennst du Land und Leute wohl in- und auswendig?»
    «Nun, ich will es mal so sagen: Wenn du über Althausen etwas wissen willst, frag mich. Von diesem kleinen Fliegenschiss auf der Landkarte kenne ich alle Geschichten.»
    Kristin sah von ihrer Tasse auf. «Hat dieses Haus auch eine Geschichte?»
    Hanna sah sie an. Und da waren sie wieder, diese tiefen Falten neben ihren Mundwinkeln.
    «Es hat dir noch niemand davon erzählt, oder?»
    «Wovon?»
    Hanna zögerte.
    «Vielleicht ist es ganz gut, wenn ich dir die Geschichte erzähle. Je länger du hier wohnst, umso größer ist nämlich die Gefahr, dass du irgendwelche Gerüchte hörst, die vom Hörensagen und Weitererzählen über die Jahre verwaschen wurden.»
    «Gerüchte? Es gibt Gerüchte über dieses Haus? Du machst mich wirklich neugierig.»
    «Kann ich erst noch etwas Kaffee bekommen?»
    «Oh, natürlich, entschuldige bitte.» Hanna

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