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Der Gesang des Blutes

Der Gesang des Blutes

Titel: Der Gesang des Blutes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Winkelmann
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älteren Menschen umgebracht hätten. Mühsam versuchte sie sich in einem Was-soll-schon-sein-Lächeln und ging auf die Frau zu.
    «Nein nein … alles in Ordnung, wirklich, ich … ich war eben im Garten und bin gelaufen, als ich den Wagen hörte.» Kristin versuchte sich an den Namen der Frau zu erinnern. Sie hatte eine Beileidskarte von ihr bekommen, und eigentlich hätte ihr der Name geläufig sein müssen. Trotzdem kam sie nicht drauf.
    «Habe ich Sie erschreckt?»
    «Nein, wirklich nicht. Alles in Ordnung.»
    «Ich hoffe, ich überfalle Sie nicht allzu sehr?»
    Kristin ergriff ihre Hand. «Ach, gar nicht.» Plötzlich war der Name da. Sie hieß Hanna Wittmershaus. Vor ihrem geistigen Auge sah Kristin den Schriftzug auf der Leuchtreklame über dem Eingang des Edeka. «Was führt Sie zu mir?»
    «Na ja …», machte Hanna Wittmershaus und streckte einen in Klarsichtfolie verpackten Topf mit einer Pflanze nach vorn. «Ich hab Ihnen noch nicht zum Einzug gratuliert, und ich denke, jetzt ist der richtige Zeitpunkt gekommen, es nachzuholen. Willkommen in Althausen.»
    Kristin starrte die Pflanze an. Einige Leute aus dem Dorf, darunter auch Hanna Wittmershaus, hatten zu Toms Beerdigung kondoliert, doch so etwas wie eine herzliche Begrüßung zum Einzug hatte es nicht gegeben. Tom und sie hatten auch nicht damit gerechnet. Auf dem Lande, so sagt man, sind die Menschen zurückhaltend, mitunter sogar störrisch, und bevor aus Hinzugezogenen Einheimische werden, können einige Jahre vergehen. Auf dem Lande brauchte man als Fremder eine große Familie oder ein dickes Fell. Kristin hatte weder das eine noch das andere, und diese Geste rührte sie.
    «Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Vielen Dank.» Sie nahm den Topf entgegen.
    «Das ist eine Indische Azalee, die braucht besondere Pflege. Ich hab sie bei Johann Mönck gekauft, und er hat mir mindestens fünfmal gesagt, ich soll Ihnen ausrichten, Sie mögen zu ihm kommen und um Rat fragen. Ich musste ihm das sogar versprechen, sonst hätte er mir das gute Stück nicht verkauft. Der alte Zausel stellt sich immer an, als müsste er sich von einem Kind trennen.»
    «Das werde ich auf jeden Fall tun. Danke, Frau Wittmershaus.»
    Kristin war, als müsse sie noch mehr sagen, viel mehr. Ein einfaches Danke schien ihr nicht angemessen für das Gefühl in ihrem Bauch. Sie war sich auch sicher, dass da noch Worte in ihr waren, aber mehr als ein Schlucken brachte sie nicht zustande.
    «Möchten Sie auf eine Tasse Kaffee hereinkommen?», fragte sie schnell, um die peinliche Lücke zu überbrücken.
    «Gern, sehr gern. Ehrlich gesagt, ich bin neugierig darauf, wie Sie das Haus hergerichtet haben.»
    Kristin ging voran und schloss die Haustür auf. Sie stellte die Pflanze auf dem Küchentisch ab und führte ihren Gast herum. Als sie an der Kellertür vorbeikamen, blieb Hanna Wittmershaus stehen und klopfte gegen das Holz.
    «Benutzen Sie den Keller eigentlich?»
    «Nein, warum?»
    «Ach, nur so. Ist wahrscheinlich auch besser. Ich kann mich erinnern, dass es ein ziemliches Loch ist, mit einer gefährlich steilen Treppe.»
    «Sie waren schon einmal hier?» Kristin war erstaunt. Sie hatte geglaubt, jemandem ihr Haus zeigen zu können, dem es bisher völlig fremd war. Dabei lag es eigentlich auf der Hand. Das Haus war annähernd hundert Jahre alt. Hanna Wittmershaus musste den einen oder anderen Bewohner gekannt haben.
    «Ja, aber es ist schon eine ganze Weile her. Fünfzehn Jahre, glaube ich. Damals haben die Nussmanns hier gewohnt. Sehr liebe Leute. Sind dann leider im Altenheim gelandet.»
    Hanna Wittmershaus starrte die Kellertür einen Augenblick wortlos an. Kristin meinte einen Ausdruck in ihren Augen sehen zu können, für den sie im Moment sehr empfänglich war: Trauer. Außerdem tauchten kurz zwei tief eingegrabene Falten neben ihren Mundwinkeln auf. Es war ein völlig anderes Gesicht als das, welches sich ihr Sekunden später lächelnd zuwandte.
    Sie setzten den Rundgang fort. Wenig später bot Kristin ihrem Gast Platz im Wohnzimmer an und ging selbst in die Küche, um Kaffee zu kochen.
    Während der routinierten Handgriffe erinnerte sie sich an jenen Tag, als sie hinter Tom in den Keller hinabgestiegen war. Jetzt, nachdem ein paar Monate vergangen waren, wusste sie selbst nicht mehr, was genau sie damals so geängstigt hatte. Es war ein sehr starker Eindruck gewesen, daran erinnerte sie sich, aber er war längst verblasst und kaum noch fassbar. Hanna Wittmershaus’

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