Der Gesang des Wasserfalls
mir nicht vorstellen, mich zu einem anderen Teil der Welt hingezogen zu fühlen.«
Ann sah sie durchdringend an. »Befreie dich davon, dann schau dich um, und du wirst wahrscheinlich eine klarere Vorstellung davon bekommen, wo du hinwillst.«
Sie kam nicht mehr dazu, genauer zu erklären, wovon sich Madi befreien sollte, da sie inzwischen vor den Guyana Stores angekommen waren.
»Okay, lass uns den Supermarkt stürmen.«
Es verblüffte Madi, dass der größte Supermarkt von Georgetown so regelmäßig ausverkauft war. Tropfende Kühlfächer mit offenen Türen enthielten nichts anderes als eine verknautschte Plastiktüte mit Tintenfischstücken. Regale, auf denen Dosen mit Lebensmitteln hätten stehen sollten, waren leer, und wo eine Palette mit frisch eingetroffenen Waren ausgepackt wurde, grapschten sich Käufer gleich drei oder vier Pakete, ohne recht zu bemerken, was sie da kauften.
»Die Zeit der Lebensmittelknappheit, als man in langen Schlangen für die Grundnahrungsmittel anstehen musste, ist noch nicht vergessen. Die Einkaufsphilosophie der Leute besteht darin, sich das zu schnappen, was sie kriegen können«, sagte Ann und legte Dosen mit Pilzen, Suppen und Pakete mit getrockneten Bohnen in ihren Einkaufskorb.
»Meine Lieben, was für eine freudige Überraschung. Machen Sie Hamsterkäufe?«
Lady Annabel, prächtig anzusehen in einem bunt bedruckten afrikanischen Kaftan, mit Sonnenbrille und einem langen, ockergelben Schal um den Kopf, segelte auf sie zu. »Liebe Madison«, sie beugte sich vor und küsste Madi auf die Wange. »Wie hat Ihnen der Kaieteur gefallen?«
Madis Augen leuchteten. »Es war phantastisch. Mir fehlen die Worte.«
»Das glaube ich. Und wie sehen Ihre weiteren Pläne aus?«
»Für heute, nächste Woche oder nächstes Jahr?«
Lady Annabel nahm die Sonnenbrille ab und betrachtete Madi. »Ich dachte an heute. Die nächste Stunde. Würden Sie gern irgendwo Tee trinken? Ich war gerade auf dem Weg zu meinem alten Haus. Madi, würden Sie gern mitkommen? Ann?«
»Ich kann nicht, vielen Dank, Annabel. Muss die Einkäufe zurückbringen und bin mit John verabredet. Aber, Madi, warum gehst du nicht mit? Das Haus wird dich bestimmt interessieren. Ich schicke Singh zurück, damit er dich abholen kann.«
»Würden Sie das tun, Ann? Das wäre sehr liebenswürdig. Madi?«
Madi zuckte die Schultern. »Ja, warum nicht. Ich habe keine besonderen Pläne für diesen Vormittag.«
Madi reagierte etwas überrascht auf die Größe und die verfallene Pracht der alten Villa. Hoch über dem Boden gebaut, ragte sie mit ihren zwei Stockwerken wie ein alternder grauer Schatten aus dem verwilderten Garten. Der Raum unter dem Haus war verglast worden, eine moderne Ergänzung, die wie ein neuer Verband auf einem alten Körper wirkte. »Das ist Oberst Bedes Büro«, sagte Lady Annabel, als sie der Wagen vor dem schmiedeeisernen Tor absetzte. »Er hat da einen Schreibtisch und Aktenschränke reingestellt, aber er scheint es nicht oft zu benutzen. Trifft sich hier gelegentlich mit Leuten, hat er mir erzählt. Wenigstens hält sich so ab und zu jemand hier auf. Das Ganze ist zu einem rechten Klotz am Bein geworden«, sagte sie mit trauriger Stimme.
Ann winkte ihnen zum Abschied zu. »Singh wird in einer Stunde oder so zurück sein.«
Sie gingen durch den zugewachsenen Garten, an einem überwucherten Teich, Hibiskusbüschen und Bougainvilleen vorbei, die einst regelmäßig beschnitten worden waren und jetzt von den überlangen Schösslingen erdrückt wurden. Ein knorriger, verwachsener Flammenbaum wuchs an der einen Seite des Hauses und reichte bis zur oberen Veranda hinauf. »Ich werde mir ein paar Ableger mitnehmen und sie in meinem kleinen Garten eintopfen. Ich sehe hier nur gern alle paar Wochen nach dem Rechten.« Annabel ging zu einem Seiteneingang, schloss eine dicke Tür auf, hinter der eine Treppe zur Veranda hinaufführte. »Das war früher der Dienstboteneingang.«
Madi hielt die Luft an, als ihr der muffige Geruch, der sie an alte Kleider, Mottenkugeln und modrige Teppiche erinnerte, in die Nase stieg. Sonnenstreifen fielen durch die geschlossenen Fensterläden, doch Madi konnte die schweren Mahagonimöbel ausmachen, die wie massige Klötze in dem großen Wohnzimmer standen. Ein schwacher Holzgeruch strömte von ihnen aus, oder war es Möbelpolitur? Annabel öffnete zwei Fensterläden, und nun waren staubiges Leder, schwere, kunstvoll geschnitzte Stühle, Sofas, Anrichten und ein Esstisch von
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