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Der Gesang des Wasserfalls

Der Gesang des Wasserfalls

Titel: Der Gesang des Wasserfalls Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Di Morrissey
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gewaltigem Ausmaß zu erkennen. An den Wänden hingen Bilder dunstiger englischer Landschaften, die bleich und fade wirkten, oder lag das nur an dem Kontrast zu der heißen Sonne und den strahlenden Farben vor den Fenstern?
    »Sie haben nie etwas verändert oder verkauft?«, fragte Madi. »Was wird mit all dem hier geschehen?«
    »Wer weiß? Wo sollte ich damit hin? Ich kann mir nicht leisten, das Haus in Schuss zu halten. Es gehört jetzt Bede. Ich fühle mich sehr wohl in meiner kleinen Wohnung am anderen Ende der Stadt, aber das hier ruft Erinnerungen wach. Daddy hat hier viele prominente Persönlichkeiten bewirtet.«
    Sie gingen durch andere Zimmer mit Himmelbetten, massiven Kleiderschränken und Kommoden, alten Gemälden und Familienporträts.
    »Hier gibt es so viele Erinnerungsstücke«, rief Madi aus. Sie verbiss sich die Bemerkung, dass es ihr wie ein Mausoleum vorkam, als sei Daddy von hier fortgetragen worden, als er sich die Zähne putzte, die Haare kämmte oder schlafend im Bett lag, und niemand hätte danach einen Fuß in das Haus gesetzt und nichts wäre umgestellt oder verändert worden. Sie wusste, ohne danach fragen zu müssen, dass seine Anzüge nach wie vor im Schrank hingen.
    »Wie lange steht das Haus schon so verschlossen da?«
    »Seit zehn Jahren. Bede hat das alles für mich geregelt. Ich verstehe zu wenig davon, weiß nur, dass mir woanders eine Wohnung zur Verfügung steht und dass ich gewisse geldliche Zuwendungen aus dem Besitz erhalte.« Lady Annabel zuckte die Schultern. »Wir können hier Tee trinken … wenn Sie nichts gegen Dosenmilch haben. Ich habe hier einige Vorräte untergebracht und komme gelegentlich vorbei, um mit Daddy Tee zu trinken.« Madi wusste nicht recht, wie sie darauf reagieren sollte, da Lady Annabel ihre gelegentlichen Teestündchen mit einem Geist durchaus ernst zu nehmen schien.
    »Schauen Sie sich ein wenig um, während ich nach unten in die Küche gehe. Es dauert nicht lange. Vom Spielzimmer kommen Sie auf einen kleinen Balkon, der recht gemütlich ist. Fühlen Sie sich wie zu Hause.«
    Madi versuchte, sich Annabel als Kind vorzustellen, das in diesem jetzt muffigen und musealen Relikt einer vergangenen Ära aufwuchs. Das Brummen der Autos, der surrenden Fahrräder und des Verkehrs draußen wurde durch den Garten gedämpft. Ob das hier wohl je ein fröhlicher, beschwingter Ort gewesen ist? fragte sich Madi.
    Sie schaute in große, kunstvoll geflieste Badezimmer, in denen sie Wannen mit bronzenen Armaturen und Toiletten mit Blumenverzierungen, polierten Holzsitzen und glänzenden Messingketten vorfand. Sie öffnete die deckenhohen Türen eines Badezimmerschranks und zuckte überrascht zurück, als sie die leicht angeschimmelten, seit Jahren unberührten Toilettenartikel sah.
    Die Hauptveranda war voll gestellt mit ausladenden Korbmöbeln, deren Polster mit verblichenem Brokatstoff bezogen waren. Zwischen dem Wohnzimmer und dem Eingang zur Veranda kam man über eine Treppe zu einer kleinen Galerie, die im rechten Winkel in die Eingangshalle führte. Madi schaute über das Geländer und sah auf der einen Seite der großen Eingangstür so etwas wie eine Bibliothek, auf der anderen ein Empfangszimmer. Dort fiel ihr ein kleines Bücherregal ins Auge, und sie betrachtete die Reihen leicht vermoderter alter englischer Kriminalromane und geschichtlicher Werke.
    Während sie dort an dem Regal stand, hörte sie Schritte die Treppe hinaufkommen. Zuerst dachte sie, es sei Annabel, aber die Schritte waren ungleichmäßig, der eine Fuß wurde offenbar schwerer aufgesetzt als der andere, und sie schaute auf. Kommt da jemand aus dem Büro des Obersts herauf? dachte sie. Mit dem Buch, das sie gerade aus dem Regal genommen hatte, lehnte sich Madi über das Geländer und sah einen älteren Mann auf dem Treppenabsatz stehen, mit aufgekrempelten Hemdärmeln und einer Fair-Isle-Weste über dem weißen Hemd und der Krawatte. Madi lächelte ihm zu, da sie ihn für jemanden hielt, der hier arbeitete, dann ging sie mit dem Buch in der Hand über die Veranda zu einem Korbstuhl. Sofort wurde sie von dem Buch gefangen genommen –
The Discoverie of the Large, Rich, and Bewtiful Empyre of Guiana
von Sir Walter Raleigh.
    Sie blätterte die Faksimileausgabe von Raleighs begeisterter Schilderung seiner Suche nach El Dorado durch. Augenblicklich war sie erfüllt von den Eindrücken seiner Abenteuer im Landesinneren. Trotz der altertümlichen Sprache marschierte sie bald neben ihm, hingerissen

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