Der Geschichtenverkäufer
die Stadt flog. Ich schaute auf die vielen Häuser hinab und konnte mir aussuchen, wo ich tiefer fliegen wollte, um in die Wohn- und Schlafzimmer der Menschen zu schauen. Durch die Fenster sah ich, wie die unterschiedlichsten Menschen lebten, es gab kein Geheimnis, das mir verschlossen geblieben wäre. Ich erlebte die seltsamsten Streitereien und die bizarrsten Varianten menschlichen Sexualverhaltens. Ich hatte das Gefühl, Affen in einem Käfig zu beobachten, und es kam vor, daß ich mich meiner eigenen Spezies schämte. Einmal sah ich einen Mann und eine Frau, die sich auf einem riesigen Flokati paarten, während ein Mädchen von zwei oder drei Jahren auf dem Sofa saß und ihnen zuschaute. Ich fand das unnatürlich. Ein anderes Mal sah ich einen Mann in einem breiten Doppelbett, der es mit zwei Frauen auf einmal machte. Ich empfand deshalb keine moralische Entrüstung, während viele andere Beobachtungen mich wirklich erschütterten. Einmal wurde ich Zeuge einer brutalen Schlägerei, bei der es um Geld ging und bei der ich nicht eingreifen konnte. Ich war mir nicht ganz sicher, aber ich hatte den Eindruck, daß ein Mann tot in der Wohnung liegenblieb, während der andere sich absetzte.
Das ist natürlich erinnerte Phantasie, aber ich lernte viel aus solchen Phantasien, sie brachten mir oft wertvolle Erkenntnisse. Vieles von dem Material zu den Kriminalromanen, die ich seither ausgeheckt habe, stammt von diesen Seelenreisen. Ein Kriminalroman verfügt in der Regel über einen komprimierten Handlungskern, der sich auf einer einzigen Seite darstellen läßt. Die Kunst des Autors besteht darin, diesen Kern aus Tatsacheninformationen zurückzuhalten. Der Detektiv muß Zeit - und Verstand - für die Aufklärung eines Falles brauchen, das gefällt den Lesern. Stück für Stück nähert der Ermittler sich einem besseren Verständnis dessen, was wirklich passiert ist, er wird in die Irre geführt und auf falsche Spuren gelenkt, doch wenn sich das Bild nach und nach klärt und vervollständigt, glauben die Leser, alles durchschaut und gewissermaßen selbst zur Aufklärung beigetragen zu haben.
Ich lernte auch aus Träumen, ein Traum konnte wie ein offenes Buch sein. Damals lief ich immer wieder durch zwei oder drei bestimmte Traumlandschaften, so, wie es auch Traumgestalten gab, die in regelmäßigen Abständen auftauchten. Ich war mir sicher, daß es sich bei diesen Gestalten nicht nur um Reflexe von etwas handelte, das ich in der Außenwelt erlebt hatte, im Gegenteil: sie stellten etwas Neues dar, waren wirklich neue Erfahrungen, von denen ich lernte, und die mich zu dem Erwachsenen machten, der ich heute bin. Aber woher kamen diese Träume? Ich konnte nicht entscheiden, ob sie und alle meine Seelenreisen einer besonders scharfen Antenne geschuldet waren, mit der ich Impulse von außen auffing, oder ob ich ein seelisches Echolot besaß, mit dem ich eine Schicht von Geheimnissen nach der anderen in den endlosen Tiefen meiner selbst aufzuspüren vermochte.
Ich träumte nicht mehr von dem kleinen Mann mit dem Spazierstock, dabei hätte ich nichts dagegen gehabt, ihm im Traum zu begegnen, wenn ich nur im Bett lag und schlief. Es wäre mir lieber gewesen, als ihn jederzeit in meiner Wohnung antreffen zu können.
Ich erlebte auch spektakulärere Seelenreisen. So besuchte ich den Mond schon viele Jahre vor Armstrong und Aldrin. Ich weiß noch, wie ich einmal auf dem Mond stand und zum Erdball hochblickte. Dort oben waren alle Menschen. Inzwischen ist es zum Klischee geworden, doch lange, bevor Armstrong den großen Schritt für die Menschheit tat, stand ich auf dem Mond und begriff das Tragikomische an den vielen Kriegen und Ländergrenzen. Ich war vielleicht zwölf Jahre alt, als ich die Reise unternahm. Seit damals hat sich mein Blick für die vielen Belanglosigkeiten, mit denen die Menschen ihr Leben füllen, nur immer mehr geschärft. Besonders komisch erschienen mir Lob und Tadel, Ehre und Ruhm.
Ein paarmal unternahm ich Seelenreisen, die mich noch weiter in den Weltraum hinausführten. Einmal stieg ich in eine Zeitmaschine und wurde in die Zeit versetzt, in der es auf der Erde noch kein Leben gab. Ich schwebte über den Wassern, und die Erde lag unter mir wie eine zum Platzen bereite Knospe, ich wußte, daß das Leben auf der Erde bald einsetzen würde. Das war an die vier Milliarden Jahre vor der ersten Regierung Gerhardsen.
Ich konnte auf den Fittichen der Seele aber auch Städte und bestimmte Orte darin aufsuchen,
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