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Der Geschichtenverkäufer

Der Geschichtenverkäufer

Titel: Der Geschichtenverkäufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jostein Gaarder
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zum Beispiel den Hängeboden in einem Theater, wo ich dann hoch oben saß und auf die Schauspieler hinunterblickte. Einmal saß der kleine Mann nur anderthalb Meter von mir entfernt auf einem Scheinwerfer. Er schaute mit lebenssatter Miene zu mir herüber und fragte mit belegter Stimme: Ach, du bist auch hier? Darf ich denn nie etwas allein unternehmen? Der hatte gut reden!
    Mir kamen immer neue Ideen. Sie konnten mir in den Nacken pusten, meinen Magen kitzeln oder wie offene Wunden brennen. Ich blutete Geschichten und Erzählungen aus, mein Gehirn kochte vor neuen Ideen geradezu über, aus dem heißen Krater in mir schien fieberrote Lava emporzuquellen.
    Pausenlos stürmten die Gedanken auf mich ein, mußte ich mir Ecken suchen, wo ich sie zu Papier bringen konnte. Ich notierte lange Gespräche zwischen zwei oder mehr Stimmen in meinem Kopf, bei denen es um bestimmte ontologische, epistemologische oder ästhetische Uemen ging. Die eine Stimme sagte etwa:
    Für mich ist es evident, daß der Mensch eine unsterbliche Seele besitzt, die nur für einen kurzen Moment in einem Körper aus Fleisch und Blut Wohnstatt genommen hat. Worauf die andere Stimme antwortete: Nein, nein. Der Mensch ist ein Tier wie alle anderen Tiere. Das, was du Seele nennst, ist untrennbar mit einem Gehirn verbunden, das sich auflösen kann. Oder wie Buddha auf dem Totenbett sagte: Alles Zusammengesetzte ist vergänglich.
    Solche Dialoge konnten sich leicht über viele Dutzend Seiten erstrecken, dennoch war es gut, sie nicht mehr im Kopf zu haben. Aber kaum hatte ich etwas zu Papier gebracht, schon wimmelte es in meinem Kopf von neuen Stimmen, und wieder mußte ich mir Erleichterung verschaffen.
    Die Dialoge, um die ich mich erleichterte, konnten auch aus dem Alltagsleben der Menschen stammen. Dann sagte eine Stimme etwa: Da bist du ja endlich. Hättest du nicht wenigstens anrufen und sagen können, daß es spät wird? Und die andere Stimme antwortete: Ich sagte doch, daß die Sitzung dauern kann. Worauf die erste Stimme erklärte: Du willst mir doch nicht erzählen, du kämst jetzt erst von der Sitzung. Es ist doch schon fast zwölf! Schon war der Streit im Gang.
    Ich habe mir nie überlegt wozu solche einleitenden Wortwechsel führen könnten. Im Gegenteil, ich wollte nicht daran denken und schrieb sie auf, damit Ruhe war. Die einzige Möglichkeit, den Überdruck meines überhitzten Gehirns abzubauen, bestand darin, seine Hervorbringungen schriftlich zu fixieren.
    Manchmal tränkte ich mein Gehirn in Alkohol, dann kam der Schnaps in Form von Geschichten wieder zum Vorschein, so, als wäre die Flüssigkeit verdampft und hätte sich in reinen Geist verwandelt. Obwohl der Alkohol die Phantasie noch einmal anregte, dämpfte er doch zugleich die Angst davor; er setzte meinen inneren Motor in Gang und gab mir Mut und Kraft, die Arbeit des Motors auszuhalten. Ich konnte einen ganzen Schwarm von Stimmen im Kopf haben; sobald ich einige Gläser intus hatte, konnte ich sie allesamt einfangen.
    Wenn ich morgens aufwachte, erinnerte ich mich nicht immer daran, was ich am Vorabend geschrieben oder notiert hatte, vor allem nicht an die letzten Zeilen, die ich nach zwei Flaschen Wein auf einen Schreibblock gekritzelt hatte. Dann fand ich es spannend, in meinen Schlafrock zu schlüpfen und ins Arbeitszimmer zu schlendern, um einen Blick auf den Schreibtisch zu werfen. Es war ja nicht ausgeschlossen, daß dort etwas Interessantes lag. Und jedesmal, wenn ich Notizen fand, an die ich mich nicht erinnern konnte, war es, als nähme ich ein mystisches Dokument in Empfang, das mir per automatischem Schreiben vermacht worden war.
    Eine Triebkraft für die Phantasie und den zeitweisen Alkoholkonsum war vielleicht das, was ich immer zu vergessen versuchte, woran ich mich aber auch nicht erinnern konnte. Warum aber wendete ich soviel Energie auf, um etwas zu vergessen, das ich mir doch nicht ins Gedächtnis zu rufen vermochte?
    Nur Naturerlebnisse und Damenbesuche konnten mir für kurze Zeit eine Art Seelenruhe schenken.
    Schon in der Mittelstufe war ich zum Naturmystiker geworden. Ich erlebte die Welt als traumartig und verhext. In mein Tagebuch schrieb ich:
    Ich habe fast alles durchschaut. Das einzige, was ich nicht durchschauen kann, ist die Welt selber. Sie ist zu massiv. Sie ist zu undurchdringlich. Was die Welt betrifft, habe ich längst passen müssen. Nur sie steht einem Gefühl der totalen Einsicht im Weg.
    Ich war außerdem Romantiker. Ich wäre nie auf die Idee

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