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Der Geschichtenverkäufer

Der Geschichtenverkäufer

Titel: Der Geschichtenverkäufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jostein Gaarder
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und Gedankensprünge zu produzieren, fand es viel schwieriger, das nicht zu tun. Bei denen, die schreiben wollten, sah das anders aus. Viele hatten oft über Monate und Jahre hinweg keine originelle Idee, über die sie hätten schreiben können. Ich war von Menschen mit einem enormen Ausdrucksbedürfnis umgeben, doch ihr Bedürfnis war größer als ihr Ausdruck, ihr Drang größer als ihre Botschaft. Ich sah mich vor einem fast grenzenlosen Markt für meine Dienste. Aber wie sollte ich meine Tätigkeit organisieren?
    Noch am Tag von Marias Abreise nach Stockholm ging ich mit einigen Notizen in die Stadt. Es handelte sich um eine Sammlung von zwanzig Aphorismen. Ich wollte den Markt testen und meine eigene Vorgehensweise auf die Probe stellen. Ich hatte vor, die Aphorismen einzeln abzusetzen, zum Beispiel für ein großes Bier pro Stück. Sie waren gut, sehr gut, da gibt es keinen Zweifel, das heißt, ich war bereit, für einen halben Liter Bier mit einem überaus eleganten Aphorismus zu bezahlen - und danach für alle Zukunft meine Urheberschaft zu vergessen. Ich mußte nur den richtigen Abnehmer finden und die notwendige vertrauliche Gesprächssituation schaffen. Übrigens hatte ich an dem Tag auch ein ganz handfestes Motiv, tätig zu werden: ich hatte mein letztes Geld für Maria ausgegeben und hätte mir sonst kein Bier leisten können.
    Am späten Nachmittag stieß ich mitten in der Stadt auf einen älteren Autor, wir wollen ihn Johannes nennen. Wir hatten schon oft miteinander gesprochen, und ich wußte, daß ihm meine Genialität aufgegangen war. Ich glaube, er hatte sogar begriffen, daß ein Gespräch mit mir sich für ihn bezahlt machen könnte. Einmal hatte er mich gefragt, wann mit meinem Debüt zu rechnen sei. Er stellte die Frage in einem Tonfall, der eher angebracht gewesen wäre, wenn er mich nach meiner ersten sexuellen Erfahrung gefragt hätte. Nie, hatte ich geantwortet, ich würde niemals ein Buch veröffentlichen. Das hatte ihn beeindruckt. Es gab nicht viele, die so etwas von sich behaupteten.
    Jetzt fragte ich Johannes, ob ich ihn zu einem Bier einladen dürfe. Ich verriet nicht, daß ich kein Geld bei mir hatte; wenn alles schiefging, konnte ich das immer noch entdecken, wenn mir die Rechnung präsentiert wurde. Mich hatte noch nie jemand bei einer Lüge ertappt. Ich beschloß, ihm die ganze Aphorismensammlung anzubieten; das war nicht meine Absicht gewesen, aber plötzlich mußte ich wieder an Maria denken. Ich durfte nicht das Risiko eingehen, an diesem Abend nur aus Geldmangel nicht genug trinken zu können. Für Johannes konnten die zwanzig Aphorismen ein Vermögen wert sein. Wenn er sie richtig verwandte und etwas eigenes hinzugab, konnten sie ihm eine neue Identität verschaffen. Er hatte im Abstand von sechs Jahren zwei nicht besonders gelungene Romane veröffentlicht. Anfang der siebziger Jahre enthielten Romane selten weniger als zwanzig Aphorismen.
    Wir gingen in den Casino-Keller. Zum Glück waren nicht viele Gäste dort, doch alle, die dort waren, waren Schauspieler oder Autoren. Dazu kam die feste Gruppe derer, die eine Karriere als Autor oder als Schauspieler anstrebten. Wir fanden eine ruhige Ecke.
    Nach einer Weile zitierte ich einen Aphorismus. Von wem ist der? fragte Johannes. Ich zeigte auf mich und ließ einen weiteren folgen. Aber hast du nicht gesagt, daß du nicht schreibst? fragte er. Ich schüttelte den Kopf. Ich hätte nur gesagt, daß ich niemals ein Buch veröffentlichen würde, erklärte ich ihm und präzisierte, daß ich auf keinen Fall Schriftsteller werden wolle. Jetzt war er derjenige, der den Kopf schüttelte. So etwas hatte er in diesen Kreisen wahrscheinlich noch nie gehört.
    Jede Szene, jede Subkultur hat ihr Arsenal an selbstverständlichen Voraussetzungen. In der Szene, in der Johannes verkehrte, erklärte niemand, nicht Schriftsteller werden zu wollen; höchstens mußte jemand irgendwann zugeben, daß er es nicht schaffte. Das ist natürlich nicht überall so. In manchen Weltgegenden gibt es noch immer ländliche Enklaven, wo die entgegengesetzte Aussage ebenso verrückt klingen würde. Es muß immer noch Bauern geben, die außer sich vor Empörung wären, wenn der Anerbe eines Tages vom Roden oder Ernten zurückkäme und erklärte, er wolle Schriftsteller werden.
    Heute behaupten die meisten Schulkinder, sie wollten später berühmt werden, und das wollen sie tatsächlich. Vor zwanzig Jahren hätten sie sich mit dieser Aussage lächerlich gemacht. So

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