Der Geschichtenverkäufer
nicht einmal, daß sie überhaupt je einen Zirkus gesehen hatte. Der Zirkusdirektor war beeindruckt von den Fähigkeiten der jungen Schwedin und nahm sie in seinen Zirkus auf. Weder er noch Panina Manina wußten, daß sie in Wirklichkeit seine Tochter war.
Maria blickte mich fragend an. Sie hatte sich immer besonders für die Enden meiner Geschichten interessiert. Vielleicht war sie an diesem Tag besonders auf der Hut, schließlich saßen zwischen uns die beiden kleinen Ohren.
Es gibt das Sprichwort »Blut ist dicker als Wasser«, setzte ich wieder an, vielleicht verstanden der Zirkusdirektor und Panina Manina sich deshalb von Anfang an so gut. Panina Manina beschloß jedenfalls, mit dem Zirkus in das Land in der Ferne zurückzukehren und wurde dort bald zu einer berühmten Seiltänzerin. Als sie eines Abends auf einem hoch über die Manege gespannten Seil tanzte, schaute sie kurz zu dem Zirkusdirektor hinunter, der mit der Reitpeitsche in der Hand vor dem großen Zirkusorchester stand, und in diesem Moment ging ihr auf, daß er ihr leiblicher Vater war, den sie also doch nicht ganz vergessen hatte. Solche Momente werden oft als »Augenblick der Wahrheit« bezeichnet. In ihrer Verwirrung aber verlor Panina Manina das Gleichgewicht und stürzte kopfüber in die Manege. Als der Zirkusdirektor angelaufen kam und nachsehen wollte, ob sie sich verletzt habe, streckte sie die Arme zu ihm hoch und rief mit lauter, herzzerreißender Stimme: Papa! Papa!
Goldi schaute verwundert zu mir hoch und lachte. Ich glaube nicht, daß sie viel von der Geschichte verstanden hatte. Anders als Maria, die mich wütend anstarrte. Es war klar, daß ihr dieser Teil des Märchens gar nicht gefiel.
Die Sonne ging jetzt über unserem kleinen Familientreffen am See unter. Wir packten unsere Siebensachen zusammen und machten uns auf den Weg zur Straßenbahn. Die Kleine trippelte vor uns her über den Weg. »Papa, Papa«, murmelte sie. Maria nahm meine Hand und drückte sie. Ich sah, daß ihr Tränen in den Augen standen. Als wir die Stadt erreichten, trennten sich unsere Wege. Ich hatte Maria und das Kind zum letzten Mal gesehen. Ich habe danach nie wieder von ihnen gehört.
Das Autorenhilfswerk
S echsundzwanzig Jahre später sitze ich vor einem großen Fenster und sehe den See, während ich aufs Meer hinausblicke. Die Sonne steht schon tief, hauchdünnes Blattgold liegt über der Bucht. Ein Boot mit einer Handvoll Touristen nähert sich der Mole, sie haben einige Kilometer weiter die smaragdgrüne Grotte inspiziert.
Ich habe hoch über der Stadt einen langen Spaziergang an den Zitronenhainen entlang und durch das Mühlental gemacht. Die Leute hier sind munter und freundlich. Eine Frau in Schwarz beugte sich aus einem Fenster und reichte mir ein Glas Zitronenlikör. Ich bin wachsam. Dort oben ist mir kein einziger Mensch begegnet, trotzdem fühlte ich mich nicht sicher. Mehrmals blieb ich stehen, um mich umzuschauen. Wenn mir aus Bologna jemand gefolgt ist, dann ist das enge Tal mit den vielen zerfallenen Mühlen der ideale Ort, sich meiner zu entledigen.
Sicherheitshalber schließe ich meine Zimmertür immer ab. Wenn jemand hereinkäme, könnte er mich mit Leichtigkeit aus dem Fenster stoßen. Unter den Fenstern fällt eine Mauer viele Meter zur alten, vielbefahrenen Küstenstraße ab. Es könnte wie Selbstmord oder wie ein Unfall aussehen.
Im Moment sind nicht viele Gäste hier, gestern abend fanden sich zum Essen nur drei Ehepaare, ein Deutscher in meinem Alter und ich selber ein. Zu Ostern, also schon in wenigen Tagen, wird jedoch mehr Betrieb erwartet.
Der Deutsche sah mich immer wieder an, vermutlich wünschte er sich Kontakt, da wir beide allein waren. Ich mußte mich fragen, ob ich ihn schon einmal gesehen haben könnte. Ich spreche fließend Deutsch.
Als ich später schlafen ging, drehte ich den Schlüssel zweimal um. Ich machte einen Bogen um die Bar. Ich habe genug Schnaps auf dem Zimmer, in der Ecke steht schon eine leere Flasche. Sollte ich mich einsam fühlen, kann ich immer noch mit Meter reden. Er taucht gern auf, wenn ich mich nach Gesellschaft sehne. Ich wohne seit vier Tagen hier.
Die Spinne sitzt im eigenen Netz gefangen. Erst spinnt sie ihr feinmaschiges Gewebe. Dann macht sie einen Fehltritt und bleibt selbst darin hängen.
Während ich das hier schreibe, geht mir auf, daß Maria mich an der Nase herumgeführt hat. In gewisser Hinsicht hat sie mich an Zynismus noch übertroffen. Sie muß gewußt haben, daß ich
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