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Der Geschichtenverkäufer

Der Geschichtenverkäufer

Titel: Der Geschichtenverkäufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jostein Gaarder
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gesessen und sich Mutters Schallplatten angesehen, während ich erzählt hatte; jetzt wanderte er im Zimmer hin und her. Und nur ich konnte ihn sehen.
    Ich hatte den kleinen Mann mit dem grünen Hut zuerst in einem Traum entdeckt. Doch dann war er aus dem Traum herausgestiegen, und seither ist er mir durchs Leben gefolgt. Er glaubt, daß er über mich bestimmen kann.
    Das Phantasieren war viel zu leicht, es war wie ein Tanz auf dünnem Eis. Ich drehte ausgefeilte Pirouetten auf einer schwachen Eishaut über vielen tausend Faden Tiefe. Und unter der Oberfläche lag immer etwas Kaltes und Finsteres auf der Lauer.

    Es ist mir nie schwergefallen, zwischen Phantasie und Wirklichkeit zu unterscheiden. Das Problem war der Unterschied zwischen erinnerter Phantasie und erinnerter Wirklichkeit. Das ist etwas ganz anderes. Ich wußte immer den Unterschied zwischen dem, was ich wirklich sah, und dem, was ich angeblich gesehen hatte. Trotzdem kann es im Laufe der Zeit schwierig werden, zwischen wirklichen Ereignissen und erdichteten Erlebnissen zu unterscheiden. Mein Gedächtnis besitzt keine getrennten Kammern für Dinge, die ich gesehen und gehört habe, und Dinge, die ich mir nur einbilde. Ich habe dafür nur einen Platz, den sich wirkliche Sinneseindrücke und Phantasiegebilde der Vergangenheit teilen müssen; traut vereint ergeben sie das, was man Erinnerung nennt. Trotzdem kann ich mir vorstellen, daß mein Gedächtnis aussetzt, wenn ich ab und zu einmal die Kategorien verwechsle. Das Wort Gedächtnis ist bestenfalls eine unpräzise Formulierung. Wenn ich mich an etwas als wirklich erlebt erinnere, obwohl ich es nur geträumt habe, dann deshalb, weil ich ein zu gutes Gedächtnis besitze. Ich habe es immer als Sieg dieses Gedächtnisses empfunden, daß ich mich überhaupt an Ereignisse erinnern kann, die nur in meinem eigenen Bewußtsein stattgefunden haben.
    Ich war oft allein zu Hause. Meine Mutter war bis zum späten Nachmittag in ihrem Büro im Rathaus, danach besuchte sie manchmal noch ihre Freundinnen. Ich selber legte mir nie Freunde zu, ich wollte es nicht. Unternehmungen mit Freunden konnten sich unmöglich damit messen, was ich mir allein ausdenken konnte.
    Ich habe mich in meiner eigenen Gesellschaft immer am wohlsten gefühlt. Wenn ich mich in meiner Kindheit gelangweilt habe, dann nur, wenn ich mit Gleichaltrigen zusammen war. In der Erinnerung erscheinen mir solche Treffen nur öde und nervig. Manchmal behauptete ich, dringend nach Hause zu müssen, weil ich Besuch erwartete. Was gar nicht stimmte.
    Ich werde nie vergessen, wie zum ersten Mal ein paar Jungen bei mir klingelten und fragten, ob ich herunterkommen wolle. Sie hatten schmutzige Kleider, einer war völlig verrotzt, und ich sollte mit ihnen Cowboys und Indianer spielen. Ich behauptete, glaube ich, ich hätte Bauchweh, vielleicht fiel mir auch eine elegantere Ausrede ein. Ich sah nicht ein, warum wir zwischen Autos und Wäschepfählen Cowboys und Indianer spielen sollten. Dieses Spiel war viel spannender in meiner Phantasie, wo es echte Pferde und Tomahawks gab, Gewehre und Pfeil und Bogen, Cowboys, Häuptlinge und Medizinmänner. Ohne einen Finger zu rühren, konnte ich im Wohnzimmer oder in der Küche sitzen und die wildesten Schlachten zwischen Rothäuten und Bleichgesichtern inszenieren. Ich hielt immer zu den Indianern. Das tun heutzutage fast alle, aber es kommt ein wenig spät. Schon mit drei oder vier Jahren sorgte ich dafür, daß die Yankees auf gehörigen Widerstand stießen. Ohne meinen Einsatz gäbe es heute vielleicht kein einziges Indianerreservat.
    Die Jungs machten danach noch viele Versuche. Ich sollte mit ihnen Messer werfen, Land vermessen, Fußball spielen oder Vogelbeeren aus Pusterohren blasen, aber irgendwann, ziemlich bald, belästigten sie mich nicht mehr. Ich glaube nicht, daß noch irgendwer bei mir geklingelt hat, seit ich acht oder neun Jahre alt war. Manchmal saß ich hinter dem Küchenrollo auf einem Stuhl und beobachtete meine Altersgenossen, das konnte durchaus unterhaltsam sein. Aber ich hatte nie das Bedürfnis nach ihrer physischen Nähe.
    Erst die Geschlechtsreife sollte mit diesem Muster brechen. Mit zwölf Jahren konnte ich mir schon allerlei vorstellen, was ich gern mit einem Mädchen in meinem Alter - sie hätte aber auch um einiges älter sein können - gern gemacht hätte. Ich war außer mir vor Sehnsucht, aber nie klingelte ein Mädchen an der Tür, um zu fragen, ob ich mit nach unten kommen wolle. Ich

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