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Der Geschichtenverkäufer

Der Geschichtenverkäufer

Titel: Der Geschichtenverkäufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jostein Gaarder
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Wasserfall nicht mehr vom leisen Rauschen eines Flusses zu unterscheiden, das aus dem Valle dei Mulini zu uns heraufdrang.
    Als wir eine Stunde später in Pontone eintrafen, waren wir außer Atem geraten. Wir hatten ununterbrochen geredet und kannten einander nun schon gut genug, um zu wissen, daß wir beide ein tiefes Geheimnis verbargen. Ich hatte Angst, sie könne meines kennen, sie schien zu fürchten, ich könnte anfangen, sie nach ihrem auszufragen.
    Beate erwähnte nebenbei, daß sie vor kurzem ihre Mutter verloren habe, sie hätten sehr aneinander gehangen. Die Mutter sei ohne vorherige Anzeichen einfach tot umgefallen, noch dazu an ihrem Geburtstag, den sie mit Bekannten im mondänen Bayerischen Hof in München gefeiert habe. Die Mutter sei strahlender Laune gewesen, sie habe mit einem Glas Champagner in der Hand vor ihren Gästen gestanden, um sie zu Tisch zu bitten, dann sei sie einfach umgesunken. Bei dem Fest sei auch ein Arzt anwesend gewesen, doch er habe ihr Leben nicht mehr retten können. Sie sei nicht an Herzversagen gestorben, auch keine andere Ursache habe sich gefunden, sie habe die Welt einfach verlassen. Und dein Vater? fragte ich. Über den möchte ich lieber nicht sprechen, sagte sie ziemlich scharf. Dann riß sie sich zusammen und fügte mit etwas sanfterer Stimme hinzu: Das kann bis morgen warten. Sie schaute zu mir hoch und lächelte. Vielleicht dachte sie an den Wasserfall.
    Wenn der Weg zu steil oder holprig gewesen war, hatte sie schon einige Male meinen Arm genommen, jetzt, da wir das Stadttor von Pontone durchquerten, hakte sie sich bei mir unter, und wir schritten wie ein Ehepaar auf die Piazzetta. Es war leicht, es war ein munteres Spiel, ich hatte das Gefühl, daß wir die ganze Welt an der Nase herumführten. Manche brauchen Jahre, bis sie einander kennenlernen, aber wir waren ein ganz anderer Menschenschlag. Wir hatten bereits viele raffinierte Abkürzungen entdeckt die uns zueinander führten. Deshalb gestatteten wir einander auch das eine oder andere Geheimnis.
    Nachdem wir die Aussicht genossen hatten, gingen wir in eine Bar und tranken im Stehen eine Tasse Kaffee. Beate bestellte auch ein Glas Limoncello, worauf ich um einen Cognac bat. Jetzt sprachen wir fast überhaupt nicht miteinander. Beate rauchte eine Zigarette, ich hatte ihr die Streichhölzer aus den Fingern gerissen, um ihr Feuer zu geben. Wir beugten uns über den Tresen und schauten einander mit herausfordernden Blicken in die Augen. Sie lächelte, schien über mehrere Dinge auf einmal zu lächeln. Ich sagte: Du bist verrückt. Das weiß ich, sagte sie. Ich sagte, ich sei viel älter als sie. Ein bißchen älter, sagte sie. Wir hatten beide noch nicht über unser Alter gesprochen.
    Der Weg von Pontone nach Amalfi war steil und bestand aus einem schmalen Felsgang mit über tausend Treppenstufen. Einmal begegnete uns ein Mann, der ein Maultier mit sich führte. Wir mußten uns gegen die Felswand pressen und standen dabei dicht nebeneinander. Beate roch nach Kirschen und Pflaumen. Und nach Erde.
    Wir setzten uns auf eine Bank, unsere Füße brauchten eine Pause. Schon wenige Sekunden später kam Meter anspaziert und kletterte ganz in unserer Nähe auf einen Kantstein. Zuerst sah er zu mir hoch und machte mit seinem Bambusstock ein Zeichen, ob er sich setzen dürfe. Ich sparte mir den Widerspruch, weil ich wußte, daß er so oder so tun würde, was ihm paßte. »Meter ist Meister«, war ein Ausdruck, den er in meiner Kindheit immer wieder benutzt hatte. Ich konnte ihn weder zurechtweisen noch verscheuchen, ohne Beate angst zu machen. Womöglich wären ihr auch Zweifel an meinem Verstand gekommen. Ich beschloß deshalb, Beate ein Märchen zu erzählen, und nur indirekt wandte ich mich damit auch an den kleinen Mann. In meiner Geschichte ging es vor allem darum:
     
    In der tschechischen Hauptstadt Prag lebte vor langer Zeit ein kleiner Junge namens Jiri Kubelik. Er wohnte zusammen mit seiner Mutter in einer engen Wohnung, einen Vater hatte er nicht, und mit drei Jahren träumte er immer wieder von einem kleinen Mann mit einem grünen Filzhut und einem dünnen Bambusstock. In den Träumen war dieser kleine Mann genauso groß wie Jiri, sonst sah er jedoch aus wie ein normaler Erwachsener. Er war nur viel kleiner und außerdem beredter als die meisten.
    In den Träumen versuchte der kleine Mann Jiri davon zu überzeugen, daß er alles entschied, was der kleine Junge tat und sagte, und das nicht nur nachts, wenn er

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