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Der Geschichtenverkäufer

Der Geschichtenverkäufer

Titel: Der Geschichtenverkäufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jostein Gaarder
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die Probe, auf die sie mich stellte, ebenfalls nicht bestanden. Es wäre zu nüchtern gewesen, mich hinter derart allgemeinen Normen zu verschanzen, einer Abfuhr gleichgekommen.
    Sie reichte mir die Hand. Morgen also, sagte sie. Sie lachte. Jetzt komm schon, fügte sie hinzu. Also gingen wir. Sie lief einen Schritt vor mir her.
    Sie hieß Beate und kam aus München. Auch sie hielt sich schon seit einer Woche in Amalfi auf, aber sie wollte den ganzen Sommer hier verbringen. Sie malte Aquarelle, hatte sich bei einer netten Witwe eingemietet und würde Ende September in München eine große Ausstellung eröffnen. Dann müsse ich nach München kommen, sagte sie. Das versprach ich, ich mußte es einfach. Im Jahr zuvor hatte sie eine kleine Ausstellung mit Motiven aus Prag gehabt, auch in der tschechischen Hauptstadt hatte sie sich einige Monate aufgehalten.
    Wir sprachen jetzt deutsch miteinander. Die deutsche Sprache fiel mir leichter als Beate die italienische. Ich konnte hören, daß sie nicht in Bayern geboren war, und dachte, es müsse einen Grund geben, warum sie ihren Geburtsort nicht nannte. Ich weiß nicht, warum ich auf diese Idee kam, aber ich stellte mir vor, daß ihre Eltern vielleicht Sudetendeutsche waren, vielleicht, weil sie einige Monate in Prag gelebt hatte.
    Ich nannte meinen wahren Namen nicht, erfand aber ein passendes Pseudonym. Ich schaute ihr dabei in die Augen. Ich mußte sie auf die Probe stellen. Sie reagierte nicht.
    Ich war nicht dumm. Vielleicht war ich bereits verliebt, aber verantwortungslos war ich nicht. Ich mußte immer wieder an Luigis Warnung denken. Beate fragte nicht nach meinem Nachnamen, und ich gab mich als Däne aus, der in Kopenhagen wohnte. Auch darauf reagierte sie nicht weiter. Ich behauptete, ich sei Chefredakteur in einem dänischen Verlag, das klang selbst für mich überzeugend. Ich hätte meinen Laptop und einige Arbeit mit nach Amalfi gebracht, erklärte ich, hätte aber dringend Luftveränderung gebraucht. Ich fand, das höre sich nicht unwahrscheinlich an. Doch ich hatte sie unterschätzt.
    Arbeit? fragte sie.
    Redaktionsarbeiten, erwiderte ich.
    Sie sagte: Das glaube ich nicht. Kein Mensch fährt von Dänemark nach Süditalien, um sich an »Redaktionsarbeiten« zu setzen. Ich glaube, du schreibst einen Roman.
    Ich konnte sie nicht belügen, sie war zu gescheit.
    Na gut, sagte ich. Ich schreibe einen Roman. Dann fügte ich hinzu: Ich finde es schön, daß du mich durchschaust.
    Sie zuckte mit den Schultern. Wovon handelt dein Roman?
    Ich schüttelte den Kopf und sagte, ich hätte mir das Verbot auferlegt, darüber zu reden, solange er noch nicht fertig sei.
    Mit dieser Antwort schien sie sich zufriedenzugeben, ich war aber noch immer nicht sicher, ob sie mir glaubte. Wußte sie doch, wer ich war? Wenn Luigis Bemerkung über ein Komplott nur ein Witz gewesen war, würde ich ihm das niemals verzeihen.
    Wir kamen an von Moos überwucherten zerfallenen Papiermühlen vorbei. Beate zeigte auf Blumen und Bäume und nannte deren Namen. Wir sprachen über die Jenaer Romantik und deren Begeisterung für Ruinen und alte Kulturlandschaften. Wir sprachen über Goethe und Novalis, über Nietzsche und Rilke. Wir sprachen über alles. Beate war ein Märchen, sie war eine ganze Märchensammlung auf einmal. Sie war keine eindeutige Person, sie verfügte über eine multiple Persönlichkeit. Ich fand, daß sie mir ähnelte.
    Ich verliebe mich nicht sehr oft, aber wenn mir ein seltenes Mal eine Frau begegnet, die mich bezaubert, brauche ich nicht lange, um sie kennenzulernen. Zeit brauchen wir schließlich vor allem, um das kennenzulernen, was uns nicht gefällt.
    Nachdem wir die Ruine einer weiteren alten Mühle hinter uns gelassen hatten, stießen wir auf einen Weg, der nach rechts abzweigte. Beate fragte, ob ich jemals Pontone besucht hätte. Ich wußte, das war der Name einer auf einem Hügelkamm oberhalb von Amalfi gelegenen kleinen Stadt, war aber noch nicht dort gewesen. Komm, sagte sie und winkte mir abermals, ihr zu folgen. Sie hatte eine Karte bei sich und erklärte, der Weg nach Pontone heiße Via Pestrofa. Ich ärgerte mich, daß mir keine mögliche Etymologie dieses Namens einfiel.
    Wir verließen das Tal und erreichten einen gepflasterten Karrenweg mit hohen Kantsteinen auf beiden Seiten. Wir blieben mehrere Male stehen, um ins Tal hinabzublicken. Noch immer hörten wir das tiefe Dröhnen des Wasserfalls, in dem wir am nächsten Tag baden wollten, doch bald war der

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