Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Geschmack der Gewalt

Der Geschmack der Gewalt

Titel: Der Geschmack der Gewalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Bill
Vom Netzwerk:
Finger um Abzug und Schaft gekrümmt.
    Sein Schwager Reese hatte Doddy erschossen, dann sich selbst, weil die Wahrheit zu schwer zu ertragen war.
    Jetzt bog Whalen in die verwilderte Zufahrt zur Farm ein, die gemäß Testament an ihn gefallen war, zusammen mit den 200 Hektar Land, auf denen sie stand. Er parkte den Jeep. Stieg aus. Etwas Ranziges lag in der warmen Landluft. Whalen ging auf das Haus zu, genau wie an jenem Tag. Sah zu dem Apfelbaum hinüber, wo seine Schwester Azell und ihre Tochter Tate zusammengesackt gehangen hatten. Arme über den Köpfen. An den alten Baumstamm genagelt, gekreuzigt, geopfert seinetwegen. Was von der Schönheit der beiden noch übrig war, glich der Rinde eines überreifen Apfels. Genau wie bei Doddy und Reese, deren Gesichtszüge von Laufgeschossen Kaliber 16 entfernt worden waren.
    Whalen stand auf dem steinigen Untergrund, mit dem Rücken zum Haus, wusste, dass niemand sonst wusste, warum Reese an diesem Tag durchgedreht war. Niemand sonst wusste von Whalens Unterhaltung mit dem Mann am Abend zuvor. Der Dose Sauerkraut, die er geöffnet hatte, während er Reese zur Rede gestellt hatte, weil er es satt hatte, nur von Weitem zuzuschauen, wie sein eigen Fleisch und Blut aufwuchs. Eine Unterhaltung, die die gesamte Familie das Leben gekostet hatte. Alle, bis auf den Jungen, Gravel.
    Gravel war es gewesen, der damals angerufen hatte. Ross hatte ihn dort gefunden, wo er sich immer versteckte, in einer Höhle neben der Scheune. Das Gesicht geschwollen und tränennass. Ihm fehlten zwei Finger. Der Junge berichtete so gut er konnte. Hatte Reese in der Küche angetroffen, als er von der Eichhörnchenjagd gekommen war. An der Spüle. Wahnsinn in den Augen.Schreie drangen aus dem Bad. Wo Gravel seine Mutter und Schwester fand. Gefesselt. Reese griff ihn von hinten an. Schlug ihn bewusstlos. Gravel hatte Opossum gespielt, als er wieder zu sich kam. Gewartet, bis es still im Haus war. 911 gewählt. War aus dem Haus geflohen. Hatte sich in der Höhle verkrochen.
    Whalen hatte den Jungen all die Jahre nicht behelligt. Die Polizei und die Leute von Harrison County in dem Glauben gelassen, Gravel sei tot. Von Reese an einem unbekannten Ort beerdigt worden. Das war, was er und Gravel wollten. Ihre Ruhe. Den Tag vergessen. Ihr kleines Geheimnis.
    Jetzt machte sich Whalen auf den Weg in Richtung Scheune, bemerkte die Wanne mit Wasser. Die Sträucher, die mit der Sichel gestutzt worden waren, die am Apfelbaum lehnte. Den Generator auf der anderen Seite des Hauses. Verlängerungskabel liefen von dort zum Farmhaus. Er schaute zur Tür, die hinter dem Fliegengitter offenstand. Zog die Pistole aus dem Hosenbund, wusste, dass Gravel das Haus so gut wie nie betrat. Whalen zog die Fliegengittertür auf, erhob die Stimme. »Gravel?«
    Die Fenster der Küche waren mit Farbe eingesprüht und mit Mülltüten verklebt. Der Tisch war übersät mit Haushaltschemikalien. Plastiktütchen, Kochplatten, Einmachgläsern. Auf der Anrichte Gaslaternen. Brandgeruch mischte sich mit dem von geronnenem Blut. Chemischem Zerfall.
    Als er zu Boden blickte, bemerkte er die Insekten, die der Spur Richtung Leiche folgten. Whalens Gravel.
    Whalen kniete neben dem Jungen nieder, fuhr ihm mit den Fingerspitzen über die Haarbüschel. Die eiskalte Wange. Tot. Und das war er bereits eine Weile. Einschusslöcher überzogen seine Brust. Eine 9mm-Messinghülse lag auf dem ausgetretenen Linoleum. Whalen zog Luft ein. Biss sich auf die Lippe. Seine Blutlinie endete hier, aber er blieb gefasst.
    Er stand auf, nahm die verschwommenen Details in sich auf. Jemand hatte hier gewohnt. Meth gekocht. Im Spülbecken lagendrei Kaninchen, das Fell abgezogen. So als hätte Gravel sie zubereiten wollen. Die Pistole noch in der Hand, durchsuchte Whalen den Rest des Hauses. Im hinteren Zimmer fand er einen Schlafsack. Keine Kleidung. Aber auf dem Boden lag eine Brieftasche. Er öffnete sie. Und konnte es kaum glauben, als er den Namen auf dem Führerschein las.
    *
    Zwei aknenarbige Männer in kurzärmeligen Hemden in der Farbe von Leichenschatten saßen an einem Tisch, einer ausrangierten Erdkabelspule, gleich neben dem Eingang. Jagdmesser steckten in seitlich getragenen Scheiden. Vor ihnen schwitzten Einmachgläser. Angus kam durch die Tür, Kopf und Schusswunde pulsierten unisono. Er folgte dem Summen der Deckenventilatoren vorbei an leeren Tischen bis zu der Theke an der rechten Seite. Wo links von ihm zwei weitere Männer saßen, Bourbon aus kleinen

Weitere Kostenlose Bücher