Der Geschmack der Liebe
Stuhl und traute sich kaum, um sich zu blicken.
„Darf ich fragen, weshalb Frau Vogt hier ist?“, meldete sich da Eleonore Hansen auch schon mit kühler Stimme zu Wort. In ihrem schwarzen Leinenkostüm wirkte sie unnahbar und reserviert. Nichts erinnerte mehr an die Herzlichkeit ausstrahlende ältere Dame von gestern. Christine Hansen hüstelte nervös. Nur Daniel schien Luisas Auftauchen bei der Testamentseröffnung seines Vaters nicht zu verwundern. „Vielleicht sucht Frau Vogt bei Doktor Struppek juristische Beratung, um ihre Kündigung anzufechten“, bemerkte er spitz.
„Red keinen Unsinn, ich habe Frau Vogt von deinem … Irrtum bereits in Kenntnis gesetzt“, wies Eleonore ihren Enkel zurecht und trommelte ungeduldig mit den Fingern auf die Platte des langen Konferenztisches, an dem die Familie und der Notar Patz genommen hatten.
Christian Struppek seufzte. Er war schon seit fast einem halben Jahrhundert Anwalt und Notar der Hansens, doch heute stand ihm zum ersten Mal eine Aufgabe bevor, die ihm Kopfschmerzen bereitete. Er warf einen Blick in die Runde, gönnte der verunsicherten Luisa ein kleines Lächeln und holte dann tief Luft.
„Der Grund für die Anwesenheit von Frau Vogt ist folgender“, begann er mit ernster Miene und legte dann eine bedeutungsvolle Pause ein.
„Doktor Struppek, sparen Sie sich lange Worte, und sagen Sie uns endlich, um was es hier eigentlich geht.“ Christine wurde ungehalten. Schon als sie vor etwa zehn Minuten in den Raum gekommen war, hatte der Notar ihre Unruhe spüren können. Aber immerhin, sie war gerade Witwe geworden, er konnte sie verstehen.
„Verehrte Frau Hansen“, begann er dementsprechend vorsichtig, weil er wusste, dass das, was er bekannt zu geben hatte, gerade sie sehr verletzen würde. „Ich weiß nicht so recht, wie ich es sagen soll. Sie hatten in den vergangenen Tagen bereits genug zu verkraften …“
„Mir geht es den Umständen entsprechend gut, danke …“, entgegnete Christine tapfer.
„Eben, Schluss mit dem Theater!“, meldete Daniel sich zu Wort und verschränkte die Arme. „Was hat sie hier zu suchen?“ Doktor Struppek warf kurz einen Blick in Richtung Luisa. Das arme Mädchen. Der Junior hatte offensichtlich schon jetzt Probleme mit der jungen Dame, und wenn die Wahrheit erst mal auf dem Tisch war …
„Nun gut“, fuhr der Notar fort. „Luisa Vogt, geboren am 11. November 1984, ist heute hier, weil sie die Tochter von Maximilian Hansen ist.“
Schockiertes Schweigen breitete sich aus. Für einen Moment konnte man das Ticken der großen Wanduhr hören. Luisa hielt den Atem an. Doktor Struppek sah ernst von einem zum anderen.
„Namens und in Vollmacht von Maximilian Thor Hansen ist Luisa Vogt erbberechtigt und in seinem Testament bedacht worden. Sie ist fortan ihrem Halbbruder Daniel Hansen in allen Belangen gleichgestellt.“
Christine war kalkweiß geworden. „1984“, murmelte sie entsetzt, und ihre Hände zitterten. „Aber … da waren wir doch bereits verheiratet.“
Luisa schloss die Augen. Ihr Herz raste. Das musste ein Albtraum sein. Wenn sie die Augen öffnete, wäre sie alleine in ihrem Bett, und nichts von alldem hier hätte stattgefunden! Maximilian Hansen, der Mann, der mit ihr gescherzt, sie gelobt und gefördert hatte – ihr Vater? Wie war das möglich? Weshalb hatte sie das nicht gewusst? Weshalb hatte ihre Mutter nie etwas davon gesagt? Ein Teil von Luisa hoffte inständig, dass das alles ein tragischer Irrtum, eine Verwechslung war. Dann hörte sie Stühle rücken. Als sie endlich die Augen wieder öffnete, hatte sich Eleonore beschützend hinter ihre Schwiegertochter gestellt.
„Seit wann wissen Sie das?“, fragte die Patriarchin den Notar tonlos.
„Seit dem Tag, an dem Frau Vogt geboren wurde.“
Christine stützte den Kopf in beide Hände und begann leise zu weinen. Eleonore streichelte ihre Schultern. Luisa fühlte sich schuldig. Gestern noch hätte sie gerne irgendetwas Tröstendes zu dieser Frau gesagt, aber nicht die richtigen Worte gefunden. Jetzt war alles zu spät. Christine Hansen musste sie hassen! Ganz abgesehen von Eleonore, deren Hand sie gestern noch geschüttelt hatte. Was Daniel betraf – nun, Glückwunsch! Der hatte jetzt wenigstens einen ordentlichen Grund, sie zu verabscheuen!
„Es tut mir leid“, sagte Doktor Struppek leise. „Das hier ist für Sie.“ Mit einem mitleidigen Blick reichte er Christine einen versiegelten Umschlag. „Ihr Mann wollte, dass Sie diesen Brief
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