Der Geschmack der Liebe
konnte sich kaum beruhigen. In einer halben Stunde sollte ihre Mutter aus dem Urlaub kommen und erwartete, abgeholt zu werden. Von ihrer Tochter Luisa, mit der sie weit mehr als ein Mutter-Tochter-Verhältnis verband. Anna und Luisa waren seit jeher eher wie Freundinnen als wie Mutter und Tochter miteinander umgegangen. Molly hatte schon häufiger seufzend erklärt, sie wünsche sich auch so eine Mutter. Und nun? Was bedeutete das alles noch? Eine Mutter, die einen anlog, über viele Jahre hinweg, ach was, das ganze Leben – war die noch eine Freundin? Luisa hatte immer gedacht, sie beide könnten über alles miteinander reden, hätten keine Geheimnisse voreinander. Und jetzt das. Wie zum Teufel noch mal sollte sie Anna begegnen, wenn die aus ihrem Gate spazierte? Als sei alles so wie immer?
Nein, denn nun wusste Luisa Bescheid. Dass ihre Mutter sie mit einem Mann gezeugt hatte, der nicht Robert, ihr Vater, war. Oder andersherum? War ihr Vater nie ihr Vater gewesen? Aber warum hatte es sich dann all die Jahre für Kleinluisa so richtig angefühlt? Robert war alles gewesen, was man von einem Papa erwarten konnte! Stets beschützend, unterstützend, stolz auf seine Tochter. Er hatte sie auf den Spielplatz begleitet, ihr Nachhilfe gegeben und sie sogar in Liebesdingen beraten. Robert war ihr Papa gewesen. Und dann war er plötzlich nicht mehr da, und Luisa hatte es nie ganz geschafft, damit umzugehen. All die schwierigen Jahre nach Roberts Tod hatte es nur Anna für sie gegeben. Am Anfang hatten sie beide sogar aus Versehen für Robert mitgedeckt. Und sich dann angeblickt, froh, wenigstens einander noch zu haben. Dabei war da immer noch jemand anderes gewesen. Ihr „wirklicher“ Vater. Der vielleicht auch ein guter Papa gewesen wäre, wenn er nur eine Chance bekommen hätte. Aber diese Chance hatte er nie gehabt.
Es war Luisa nur zu klar, dass die Hansens sich erst einmal von dieser Unglücksbotschaft erholen mussten. Und sie, Luisa, war der Grund für diesen Schock. Daniels angewidertes Gesicht hatte Bände gesprochen. Eleonores eisige Verabschiedung ebenso wie Christines verzweifeltes Schluchzen würde sie sicherlich bis in den Schlaf verfolgen. Aber verdammt noch mal! Sie hatte sich das Ganze schließlich auch nicht ausgesucht!
Als der Bus den Flughafen erreicht hatte, kochte Luisa vor Wut. Aufgebracht marschierte sie in das Flughafengebäude. Das war doch alles nicht fair! Keine einzige Sekunde hatte einer der Hansens einen Gedanken daran verschwendet, dass auch sie, Luisa, eine schockierende Neuigkeit erfahren hatte. Innerhalb weniger Minuten war ihr Leben auf den Kopf gestellt worden! Nichts würde jemals wieder so sein, wie es einmal war! Und offenbar hatte niemand in dieser Familie daran gedacht, dass auch sie ein Opfer der Umstände war! Als sei sie daran schuld! Das war nicht fair, ganz und gar nicht, im Gegenteil, das war …
Hoppla!
Mit voller Wucht prallte Luisa mit jemandem zusammen. Der Rollkoffer des Mannes schlingerte und fiel auf die Seite, Luisas Handtasche flog im hohen Bogen durch die Luft, und der gesamte Inhalt ergoss sich auf den Steinfußboden. Verzweifelt kniete sich Luisa nieder. Der Flakon ihres Lieblingsparfüms Chloé war zerbrochen, und der gesamte Inhalt verteilte sich über ihre Tarotkarten und die Notizen für ihr neues Rezept. Dabei hatte sie das noch nicht einmal ausprobiert! Und der Kerl machte die Katastrophe perfekt, indem er versuchte mit ein paar Taschentüchern die Flüssigkeit aufzuwischen. Na toll, jetzt war gar nichts mehr zu lesen! Nun begann dieser Volltrottel mit einem entschuldigenden Grinsen seine Habseligkeiten aufzusammeln. Ein paar Bücher in irgendeiner komischen Sprache, ein Parfüm aus dem Duty-Free, war ja klar, dass seines den Sturz überlebt hatte! Und – hatte Luisa das wirklich gesehen? – ein paar kleine Tüten Kaffeebohnen. Wieder grinste dieser Typ sie einfach nur wortlos an. Na danke! Luisa reichte es. Das hier war der sprichwörtliche Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, und sie explodierte.
„Können Sie nicht aufpassen? Haben Sie eigentlich keine Augen im Kopf? Mensch, denkt eigentlich jeder nur noch an sich und schaut weder nach rechts noch nach links, geschweige denn geradeaus? Und grinst dann noch so blöde? Ich verrate Ihnen mal was: So geht man mit anderen nicht um! So nicht!“
Außer Atem sah Luisa den dunkelhaarigen jungen Mann an, der sie verblüfft anstarrte. Zugegeben, das eben war vielleicht ein wenig übertrieben
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