Der Geschmack von Apfelkernen
leicht geöffnetem Mund
und geweiteten Augen bei winzigen, reflexartig zusammengezogenen Pupillen. Doch
weder Erkennen noch Unwillen waren darin zu sehen. Bertha kannte und wollte nichts
mehr. Die Fotos waren ganz abgegriffen. Einigewaren unscharf oder
verwackelt, das sah Tante Inga nicht ähnlich. Das gleißende Licht hatte die tiefen
Falten in Berthas Gesicht weggebrannt, sodass es glatt und weiß aus dem grau
verschwommenen Hintergrund hervortrat. So weiß wie der Kunststofftisch, auf dem sie
mit der Hand wischte, und ebenso leer. Nachdem ich Tante Inga die Fotos
zurückgegeben hatte, schaute sie ihre Bilder selbst noch einmal lange an, bevor sie
sie in die Kiste zurücklegte. Offenbar kannte Inga jedes einzelne Bild genau und
konnte es auch von den anderen unterscheiden, denn beim Einordnen schien sie eine
bestimmte Reihenfolge einhalten zu müssen. Ich wollte meine Tante in den Arm nehmen,
aber das ging nicht ohne weiteres, also drückte ich ihr fest mit beiden Händen die
Hand, doch sie war ganz eingenommen vom Sortieren ihrer grotesken, identischen
Porträts. Das Bernsteinarmband stieß dabei immer wieder mit lautem Klappern an die
Kiste.
Das metallene Schleifen eines Fahrradständers auf dem Hof
und dann das Klappen des Gepäckträgers drangen von unten durch das offene Fenster.
Ich lehnte mich hinaus, doch der Besucher war schon um die Ecke gegangen, um vorne
an der Haustür zu klingeln. Mir kam das schwarze Fahrrad bekannt vor. Die Glocke,
eine richtige Glocke mit Klöppel, schlug an. Hastig lief ich die Treppe hinunter,
schritt den Korridor entlang und versuchte, durch die Glasscheiben neben der Haustür
zu spähen. Es war ein alter Mann, er hatte sich vor das Fensterchen gestellt, damit
ich ihn erkennen konnte. Überrascht öffnete ich die Tür.
- Herr Lexow!
Das freundliche Lächeln, mit dem er mich begrüßen wollte,
wich einem Ausdruck der Verunsicherung, als ermich sah. Mir fiel
ein, was ich anhatte, und schämte mich. Sicher dachte er, ich wäre eine morbide
Wahnsinnige, die dort oben nackt die Kleiderschränke durchwühlte und in bizarren
Kostümen irr über den Dachboden tanzte oder gleich über das Dach, das hatte es ja
auch schon vorher in der Familie gegeben.
- Oje, bitte entschuldigen Sie meinen Aufzug, Herr Lexow.
Ich stotterte und rang nach einer Erklärung.
- Mein eigenes Kleid hatte leider einen schrecklichen
Fleck, und da ich kaum etwas zum Wechseln mithabe, sehen Sie, es ist so stickig im
Haus –
Sein freundliches Lächeln war längst wieder zurückgekehrt.
Er hob beschwichtigend die Hand.
- Das ist das Kleid Ihrer Tante Inga, nicht wahr? Es steht
Ihnen ausgezeichnet. Sehen Sie, ich dachte mir, dass irgendjemand im Haus bleiben
würde. Und da doch in der Küche gar nichts mehr ist, fand ich, habe ich mir erlaubt,
nun, ich wollte einfach –
Jetzt stotterte Herr Lexow. Ich ging einen Schritt zurück,
um ihn zum Hereinkommen zu bewegen, schloss die Haustür hinter ihm und nahm ihm
einen Baumwollbeutel ab, den er mir, während er sprach, hingestreckt hatte. Bevor
ich darüber nachdenken konnte, in welches der leblosen Zimmer ich ihn führen könnte,
bat er um Erlaubnis, vorangehen zu dürfen, und lief den Flur entlang in die Küche.
Dort nahm er mir sanft die Tasche wieder ab, holte eine große Plastikschüssel
heraus, öffnete ohne längeres Suchen einen der Unterschränke, griff nach einem Topf
und stellte ihn auf den Herd. Ich ging ein paar Schritte näher. Er sagte nichts
mehr, bewegte sich aber mit ruhiger Sicherheit in Berthas Küche. Ich musste Miras
Bruder nun nicht mehr fragen, wer sich in BerthasAbwesenheit um
Haus und Garten gekümmert hatte. Unschlüssig verlagerte ich mein Gewicht von einem
Bein aufs andere. Obwohl die Küche so groß war, stand ich im Weg.
- Ach, Kind, könnten Sie doch bitte ein bisschen
Petersilie aus dem Garten holen?
Er reichte mir eine Haushaltsschere. Vom Hof aus führte
der Weg zwischen den beiden Linden hindurch in Berthas Küchengarten. Am Zaun
rankelte Jelängerjelieber, das Gartentörchen war nur angelehnt und quietschte, als
ich es aufschob. Petersilie war gleich vornan, überwuchert von Kapuzinerkresse,
»Kapern«, wie Bertha und ihre Töchter sie nannten. Auch meine Mutter hatte im
Spätsommer immer einen kleinen Becher mit den hellgrünen Früchten dieser Blume im
Kühlschrank. Ich kann mich aber nicht erinnern, dass sie je ins Essen
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