Der Geschmack von Apfelkernen
jungen Hund. Doch Inga, sie war schön. So groß wie
Bertha, wenn nicht größer, besaß sie eine Anmut in ihren Bewegungen und eine Süße in
ihren Zügen, die nicht so recht in die karge Geestlandschaft passen wollten. Ihre
Haare waren dunkel, dunkler als die von Hinnerk, ihre Augen blau wie die ihrer
Mutter, aber größer und von dunklen gebogenen Wimpern eingerahmt. Gebogen war auch
ihr roter, spöttischer Mund. Sie sprach mit ruhiger, klarer Stimme, wenngleich die
Vokale dunkel nachzitterten, was selbst die nichtssagendste Floskel mit Verheißung
auflud. Alle Männer waren verliebt in Inga. Doch meine Tante hielt sie immer auf
Distanz, vielleicht weniger aus Berechnung als aus der Sorge heraus, zu welchen
physikalischen Reaktionen es kommen würde, wenn sie sie küsste, geschweige denn sich
ihnen ganz hingab. So zog sie sich zurück, blieb viel zu Hause, hörte Schallplatten
auf einem sperrigen Plattenspieler, den ihr ein kluger und handwerklich begabter
Verehrer aus Ersatzteilen zusammengebaut hatte, und tanzte allein auf dem matt
spiegelnden Linoleumboden ihres Zimmers.
In ihren Bücherregalen standen neben einigen Handbüchern
zur Elektrolehre auch dicke traurigeLiebesromane. Meine Mutter
erzählte uns früher, dass Inga am liebsten in dem alten, zerfledderten Märchenbuch
meiner Urgroßmutter Käthe gelesen hatte, die Märchen von der Bernsteinhexe.
Vielleicht hielt sich Inga selbst für eine Bernsteinhexe, die auf dem Meeresgrunde
lebte und Menschen in die Tiefe lockte. Sie trug den Bernsteinschmuck schon als
Kind, denn in einem der Elektrolehrbücher hatte sie gelesen, dass elektron das griechische Wort sei für
Bernstein und dass dieser besonders gut elektrische Ladung aufnehme.
Nach der Schule machte sie eine Lehre zur Fotografin und
hatte mittlerweile ein eigenes recht renommiertes Atelier in Bremen. Sie war auf das
Ablichten von Bäumen und Pflanzen spezialisiert, machte hier und dort kleine
Ausstellungen und bekam immer mehr große Aufträge für die Gestaltung von
Wartezimmern, Konferenzsälen und anderen Räumen, in denen die Menschen stundenlang
auf Wände starrten und dort zum ersten Mal sahen, dass Buchenstämme glatt waren wie
Frauenbeine in Seidenstrümpfen, dass Ringelblumensamen tatsächlich geringelt war und
obendrein noch aussah wie versteinerte Urtausendfüßler und dass die meisten alten
Bäume menschliche Gesichtszüge hatten. Geheiratet hatte Inga nie. Sie war jetzt
Mitte fünfzig und schöner als es die meisten Frauen von fünfundzwanzig je sein
würden.
Rosmarie, Mira und ich waren davon überzeugt gewesen, dass
sie Liebhaber hatte. Tante Harriet hatte einmal angedeutet, dass gerade jener
bastelnde Freund mit dem Plattenspieler in Dingen der Elektrizität ein besonderes
Fingerspitzengefühl an den Tag gelegt habe, aber damals wohnte Tante Inga ja noch zu
Hause: Liebschaften unter Hinnerks Augen wären für die drei Schwestern undenkbar
gewesen.
Rosmarie fragte sich, was mit den Liebhabern unserer Tante
passierte. Starben sie an Herzversagen, unmittelbar nachdem sie den erfüllendsten
und seligsten Augenblick ihres Lebens genießen durften? Was für ein glorioser Tod,
fand Rosmarie. Mira erklärte, Inga habe vielleicht überhaupt keinen Hautkontakt,
sondern mache alles mit einem hauchdünnen Gummianzug.
- Natürlich einem schwarzen, fügte sie hinzu.
Ich sagte, dass sie es wohl so mache wie alle anderen
auch, nur dass sie sich vorher vielleicht an einem Heizkörper oder etwas Ähnlichem
geerdet habe.
- Ob es ihr wehtut? fragte Mira nachdenklich.
- Wollen wir sie fragen?
Aber das traute sich nicht einmal Rosmarie.
Inga fotografierte auch Menschen, aber nur die Familie.
Eigentlich fotografierte sie ausschließlich ihre Mutter. Je mehr Berthas
Persönlichkeit verblasste, desto heftiger knipste Inga ihre Porträts. Schließlich
fotografierte sie nur noch mit Blitz, zum einen, weil meine Großmutter kaum noch ihr
Heimzimmer verließ – sie hatte vergessen, wie man lief –, zum anderen, weil Inga
wider besseres Wissen hoffte, mit dem Blitzlicht der Kamera durch die Nebel zu
stoßen, die sich immer dicker und dichter um Berthas Gehirn schlossen. Nach meinem
Besuch bei Bertha vor vier Jahren zeigte Tante Inga mir eine ganze Kiste voll mit
Schwarzweißfotos vom Gesicht ihrer Mutter. Auf den letzten vier Filmen trug Bertha
den immer gleichen Ausdruck verständnislosen Schreckens, mit
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