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Der Geschmack von Apfelkernen

Der Geschmack von Apfelkernen

Titel: Der Geschmack von Apfelkernen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hagena
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jungen Hund. Doch Inga, sie war schön. So groß wie
     Bertha, wenn nicht größer, besaß sie eine Anmut in ihren Bewegungen und eine Süße in
     ihren Zügen, die nicht so recht in die karge Geestlandschaft passen wollten. Ihre
     Haare waren dunkel, dunkler als die von Hinnerk, ihre Augen blau wie die ihrer
     Mutter, aber größer und von dunklen gebogenen Wimpern eingerahmt. Gebogen war auch
     ihr roter, spöttischer Mund. Sie sprach mit ruhiger, klarer Stimme, wenngleich die
     Vokale dunkel nachzitterten, was selbst die nichtssagendste Floskel mit Verheißung
     auflud. Alle Männer waren verliebt in Inga. Doch meine Tante hielt sie immer auf
     Distanz, vielleicht weniger aus Berechnung als aus der Sorge heraus, zu welchen
     physikalischen Reaktionen es kommen würde, wenn sie sie küsste, geschweige denn sich
     ihnen ganz hingab. So zog sie sich zurück, blieb viel zu Hause, hörte Schallplatten
     auf einem sperrigen Plattenspieler, den ihr ein kluger und handwerklich begabter
     Verehrer aus Ersatzteilen zusammengebaut hatte, und tanzte allein auf dem matt
     spiegelnden Linoleumboden ihres Zimmers.
    In ihren Bücherregalen standen neben einigen Handbüchern
     zur Elektrolehre auch dicke traurigeLiebesromane. Meine Mutter
     erzählte uns früher, dass Inga am liebsten in dem alten, zerfledderten Märchenbuch
     meiner Urgroßmutter Käthe gelesen hatte, die Märchen von der Bernsteinhexe.
     Vielleicht hielt sich Inga selbst für eine Bernsteinhexe, die auf dem Meeresgrunde
     lebte und Menschen in die Tiefe lockte. Sie trug den Bernsteinschmuck schon als
     Kind, denn in einem der Elektrolehrbücher hatte sie gelesen, dass elektron das griechische Wort sei für
     Bernstein und dass dieser besonders gut elektrische Ladung aufnehme.
    Nach der Schule machte sie eine Lehre zur Fotografin und
     hatte mittlerweile ein eigenes recht renommiertes Atelier in Bremen. Sie war auf das
     Ablichten von Bäumen und Pflanzen spezialisiert, machte hier und dort kleine
     Ausstellungen und bekam immer mehr große Aufträge für die Gestaltung von
     Wartezimmern, Konferenzsälen und anderen Räumen, in denen die Menschen stundenlang
     auf Wände starrten und dort zum ersten Mal sahen, dass Buchenstämme glatt waren wie
     Frauenbeine in Seidenstrümpfen, dass Ringelblumensamen tatsächlich geringelt war und
     obendrein noch aussah wie versteinerte Urtausendfüßler und dass die meisten alten
     Bäume menschliche Gesichtszüge hatten. Geheiratet hatte Inga nie. Sie war jetzt
     Mitte fünfzig und schöner als es die meisten Frauen von fünfundzwanzig je sein
     würden.
    Rosmarie, Mira und ich waren davon überzeugt gewesen, dass
     sie Liebhaber hatte. Tante Harriet hatte einmal angedeutet, dass gerade jener
     bastelnde Freund mit dem Plattenspieler in Dingen der Elektrizität ein besonderes
     Fingerspitzengefühl an den Tag gelegt habe, aber damals wohnte Tante Inga ja noch zu
     Hause: Liebschaften unter Hinnerks Augen wären für die drei Schwestern undenkbar
     gewesen.
    Rosmarie fragte sich, was mit den Liebhabern unserer Tante
     passierte. Starben sie an Herzversagen, unmittelbar nachdem sie den erfüllendsten
     und seligsten Augenblick ihres Lebens genießen durften? Was für ein glorioser Tod,
     fand Rosmarie. Mira erklärte, Inga habe vielleicht überhaupt keinen Hautkontakt,
     sondern mache alles mit einem hauchdünnen Gummianzug.
    - Natürlich einem schwarzen, fügte sie hinzu.
    Ich sagte, dass sie es wohl so mache wie alle anderen
     auch, nur dass sie sich vorher vielleicht an einem Heizkörper oder etwas Ähnlichem
     geerdet habe.
    - Ob es ihr wehtut? fragte Mira nachdenklich.
    - Wollen wir sie fragen?
    Aber das traute sich nicht einmal Rosmarie.

    Inga fotografierte auch Menschen, aber nur die Familie.
     Eigentlich fotografierte sie ausschließlich ihre Mutter. Je mehr Berthas
     Persönlichkeit verblasste, desto heftiger knipste Inga ihre Porträts. Schließlich
     fotografierte sie nur noch mit Blitz, zum einen, weil meine Großmutter kaum noch ihr
     Heimzimmer verließ – sie hatte vergessen, wie man lief –, zum anderen, weil Inga
     wider besseres Wissen hoffte, mit dem Blitzlicht der Kamera durch die Nebel zu
     stoßen, die sich immer dicker und dichter um Berthas Gehirn schlossen. Nach meinem
     Besuch bei Bertha vor vier Jahren zeigte Tante Inga mir eine ganze Kiste voll mit
     Schwarzweißfotos vom Gesicht ihrer Mutter. Auf den letzten vier Filmen trug Bertha
     den immer gleichen Ausdruck verständnislosen Schreckens, mit

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