Der Geschmack von Apfelkernen
nickte dann den Blumenkränzen auf Berthas Grab zu, die schon
recht schlaff aussahen, und schritt langsam zum Ausgang. Er ging also früh ins Bett.
Nichts anderes als Respekt. Ich schaute nach Hinnerks Stein und nach Rosmaries Stück
Erde mit dem Rosmarinbusch darauf. Hatte Herr Lexow den gestrigen Abend schon
vergessen? Wurden nur die Menschen vergesslich, die etwas zu vergessen hatten? War
Vergesslichkeit einfach nur die Unfähigkeit, sich etwas zu merken? Vielleicht
vergaßen die alten Leute gar nichts, sie weigerten sich nur, sich Dinge zu merken.
Ab einer bestimmten Anzahl von Erinnerungen musste es doch jedem zu viel werden.
Also war Vergessen auch nur eine Form des Erinnerns. Würdeman
nichts vergessen, könnte man sich auch nicht an etwas erinnern. Das Vergessen war
ein Ozean, der sich um Gedächtnisinseln schloss. Es gab darin Strömungen, Strudel
und Untiefen. Manchmal tauchten Sandbänke auf und schoben sich an die Inseln,
manchmal verschwand etwas. Das Hirn hatte Gezeiten. Nur bei Bertha kam die Flut und
verschluckte die Inseln ganz und gar. Lag ihr Leben irgendwo auf dem Meeresboden?
Und Herr Lexow wollte nicht, dass jemand dort herumschnorchelte? Oder nutzte er ihr
Verschwinden, um seine eigene Geschichte zu erzählen, eine Geschichte, in der er
eine Rolle spielte? Großvater hatte Rosmarie und mir oft vom versunkenen Nachbarort
erzählt. Fischdorf, so Hinnerk, war nämlich einst eine reiche Gemeinde gewesen,
reicher als Bootshaven, aber seine Bewohner hatten dem Pastor einmal einen Streich
gespielt. Sie riefen ihn zu einem Totenbett und taten dann aber ein lebendiges
Schwein hinein. Diesem Schwein gab der kurzsichtige Pastor voller Mitgefühl die
Letzte Ölung. Als es quiekend aus dem Bett sprang, war der Pastor so erschüttert,
dass er aus dem Dorf floh. Kurz vor der Ortsgrenze zu Bootshaven bemerkte er, dass
er seine Bibel im Nachbardorf zurückgelassen hatte. Er kehrte um – und fand das Dorf
nicht mehr. Wo es einst gestanden hatte, lag jetzt ein großer See. Nur die Bibel
schaukelte noch im seichten Wasser am Rand des Sees.
Mein Großvater nahm diese Geschichte immer zum Anlass, um
über die Dummheit und Trunksucht der Popen zu spotten. Dass sie Schweine nicht von
Menschen unterscheiden könnten, überall ihre Sachen herumliegen ließen und sich
danach noch verliefen. Das fand er typisch und schlug sich ganz auf die Seite der
Fischdorfer. Hinnerk mochte es nicht besonders, wenn Menschen für ihren Erfolg
bestraft wurden.
Vielleicht war Herr Lexow auch gar nicht Ingas Vater. Vielleicht
wollte er sich nur das Beste von Bertha holen, was sie hatte. Etwas, das auch noch
keinem anderen gehörte. Bertha jedenfalls hatte immer nur Hinnerk geliebt. Ich
musste Inga fragen. Aber was außer einer fremden Geschichte könnte sie mir erzählen?
Hastig legte ich mein rot-lila Blumenbündel auf Rosmaries
Grab. Herrn Lexow konnte ich nicht mehr sehen. Jetzt reichte es aber mit den alten
Geschichten. Ich ging mit langen Schritten zurück zur Pforte. Aus dem Augenwinkel
sah ich, dass sich links zwischen den Gräbern etwas bewegte. Ich schaute genauer hin
und bemerkte einen Mann im weißen Hemd, der ein ganzes Stück von unserem
Familien-Obelisken entfernt im Schatten einer Blutpflaume saß, den Rücken an einen
Grabstein gelehnt. Ich blieb stehen. Neben dem Mann stand eine Flasche. Er hatte ein
Glas in der Hand und hielt das Gesicht in die Sonne. Ich konnte nicht viel erkennen,
nur, dass er eine Sonnenbrille trug, aber wie ein Obdachloser wirkte er irgendwie
nicht, auch nicht wie ein trauernder Angehöriger. Komischer Ort. Bootshaven. Wer
wollte hier leben?
Und wer begraben sein?
Ich warf einen letzten Blick auf den hohen schwarzen
Stein, unter dem außer meinen Urgroßeltern und meiner Großtante Anna auch Hinnerk
und jetzt Bertha Lünschen lagen und meine Kusine Rosmarie. Meine Tanten hatten sich
schon ihre Plätze dort gekauft. Was würde aus meiner Mutter? Würde ihr
heimwehkranker Geist nur in diesem unfruchtbaren Moorboden wirklich zur Ruhe kommen.
Und ich? Gehörte die Besitzerin des Familienhauses auch ins Familiengrab?
Ich beschleunigte meine Schritte, zog die kleine Pforte zu. Da
stand Hinnerks Rad. Ich schwang mich darauf und fuhr zurück zum Haus. Dort
angekommen, ging ich kurz hinein, holte mir ein großes Glas Wasser und setzte mich
vorne auf die Treppe, wo ich tags zuvor mit meinen Eltern und
Weitere Kostenlose Bücher