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Der Geschmack von Apfelkernen

Der Geschmack von Apfelkernen

Titel: Der Geschmack von Apfelkernen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hagena
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nickte dann den Blumenkränzen auf Berthas Grab zu, die schon
     recht schlaff aussahen, und schritt langsam zum Ausgang. Er ging also früh ins Bett.
     Nichts anderes als Respekt. Ich schaute nach Hinnerks Stein und nach Rosmaries Stück
     Erde mit dem Rosmarinbusch darauf. Hatte Herr Lexow den gestrigen Abend schon
     vergessen? Wurden nur die Menschen vergesslich, die etwas zu vergessen hatten? War
     Vergesslichkeit einfach nur die Unfähigkeit, sich etwas zu merken? Vielleicht
     vergaßen die alten Leute gar nichts, sie weigerten sich nur, sich Dinge zu merken.
     Ab einer bestimmten Anzahl von Erinnerungen musste es doch jedem zu viel werden.
     Also war Vergessen auch nur eine Form des Erinnerns. Würdeman
     nichts vergessen, könnte man sich auch nicht an etwas erinnern. Das Vergessen war
     ein Ozean, der sich um Gedächtnisinseln schloss. Es gab darin Strömungen, Strudel
     und Untiefen. Manchmal tauchten Sandbänke auf und schoben sich an die Inseln,
     manchmal verschwand etwas. Das Hirn hatte Gezeiten. Nur bei Bertha kam die Flut und
     verschluckte die Inseln ganz und gar. Lag ihr Leben irgendwo auf dem Meeresboden?
     Und Herr Lexow wollte nicht, dass jemand dort herumschnorchelte? Oder nutzte er ihr
     Verschwinden, um seine eigene Geschichte zu erzählen, eine Geschichte, in der er
     eine Rolle spielte? Großvater hatte Rosmarie und mir oft vom versunkenen Nachbarort
     erzählt. Fischdorf, so Hinnerk, war nämlich einst eine reiche Gemeinde gewesen,
     reicher als Bootshaven, aber seine Bewohner hatten dem Pastor einmal einen Streich
     gespielt. Sie riefen ihn zu einem Totenbett und taten dann aber ein lebendiges
     Schwein hinein. Diesem Schwein gab der kurzsichtige Pastor voller Mitgefühl die
     Letzte Ölung. Als es quiekend aus dem Bett sprang, war der Pastor so erschüttert,
     dass er aus dem Dorf floh. Kurz vor der Ortsgrenze zu Bootshaven bemerkte er, dass
     er seine Bibel im Nachbardorf zurückgelassen hatte. Er kehrte um – und fand das Dorf
     nicht mehr. Wo es einst gestanden hatte, lag jetzt ein großer See. Nur die Bibel
     schaukelte noch im seichten Wasser am Rand des Sees.
    Mein Großvater nahm diese Geschichte immer zum Anlass, um
     über die Dummheit und Trunksucht der Popen zu spotten. Dass sie Schweine nicht von
     Menschen unterscheiden könnten, überall ihre Sachen herumliegen ließen und sich
     danach noch verliefen. Das fand er typisch und schlug sich ganz auf die Seite der
     Fischdorfer. Hinnerk mochte es nicht besonders, wenn Menschen für ihren Erfolg
     bestraft wurden.
    Vielleicht war Herr Lexow auch gar nicht Ingas Vater. Vielleicht
     wollte er sich nur das Beste von Bertha holen, was sie hatte. Etwas, das auch noch
     keinem anderen gehörte. Bertha jedenfalls hatte immer nur Hinnerk geliebt. Ich
     musste Inga fragen. Aber was außer einer fremden Geschichte könnte sie mir erzählen?

    Hastig legte ich mein rot-lila Blumenbündel auf Rosmaries
     Grab. Herrn Lexow konnte ich nicht mehr sehen. Jetzt reichte es aber mit den alten
     Geschichten. Ich ging mit langen Schritten zurück zur Pforte. Aus dem Augenwinkel
     sah ich, dass sich links zwischen den Gräbern etwas bewegte. Ich schaute genauer hin
     und bemerkte einen Mann im weißen Hemd, der ein ganzes Stück von unserem
     Familien-Obelisken entfernt im Schatten einer Blutpflaume saß, den Rücken an einen
     Grabstein gelehnt. Ich blieb stehen. Neben dem Mann stand eine Flasche. Er hatte ein
     Glas in der Hand und hielt das Gesicht in die Sonne. Ich konnte nicht viel erkennen,
     nur, dass er eine Sonnenbrille trug, aber wie ein Obdachloser wirkte er irgendwie
     nicht, auch nicht wie ein trauernder Angehöriger. Komischer Ort. Bootshaven. Wer
     wollte hier leben?
    Und wer begraben sein?
    Ich warf einen letzten Blick auf den hohen schwarzen
     Stein, unter dem außer meinen Urgroßeltern und meiner Großtante Anna auch Hinnerk
     und jetzt Bertha Lünschen lagen und meine Kusine Rosmarie. Meine Tanten hatten sich
     schon ihre Plätze dort gekauft. Was würde aus meiner Mutter? Würde ihr
     heimwehkranker Geist nur in diesem unfruchtbaren Moorboden wirklich zur Ruhe kommen.
     Und ich? Gehörte die Besitzerin des Familienhauses auch ins Familiengrab?
    Ich beschleunigte meine Schritte, zog die kleine Pforte zu. Da
     stand Hinnerks Rad. Ich schwang mich darauf und fuhr zurück zum Haus. Dort
     angekommen, ging ich kurz hinein, holte mir ein großes Glas Wasser und setzte mich
     vorne auf die Treppe, wo ich tags zuvor mit meinen Eltern und

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