Der Geschmack von Apfelkernen
Erst wollte ich sein Handtuch nicht nehmen, dann aber nahm ich es
doch und trocknete mich so lange damit ab, bis es ganz nass war. Ich zog mein Kleid
an. Und als ich mich auf das Rad setzte, um zurückzufahren, schaute ich über den See
und sah Max am anderen Ufer stehen. Ich winkte kurz, er hob den Arm, dann fuhr ich
los.
[Menü]
VI. Kapitel
Als ich beim Haus ankam, hatte sich die Luft über dem
Asphalt schon so erhitzt, dass sie flimmerte, und die Straße schien sich in einen
Fluss zu verwandeln. Ich schob das Rad in die Diele, wo wie immer ein feuchtes
Halbdunkel aus dem Lehmboden stieg und die gekalkten Mauern Kälte ausströmten. Max’
helle Schultern im schwarzen Wasser. Augen wie Moor und Sumpf.
Sollte ich Papiere durchsehen? Erbschaftsunterlagen
prüfen? Hatte ich überhaupt schon welche erhalten? Erinnerungsstücke zusammensuchen?
Weiter durch die Zimmer streifen? Hinausgehen? Einen Liegestuhl nehmen und lesen?
Herrn Lexow besuchen?
Ich holte mir eine weiße Emailleschüssel aus einem der
Schränke und ging in den Küchengarten zu den Johannisbeerbüschen. Vertraut war mir
das Gefühl der warmen Beeren, die man zart, als wären es Amseleier, in die Hand
nehmen und oben, wo die Traube vom Ast hing, mit den Fingernägeln der einen Hand
abknipsen musste, während man mit der anderen den Ast festhielt. Rasch und ruhig
pflückten meine Hände die Schale voll. Ich setzte mich auf einen querliegenden
Kiefernstamm und zog mit den Zähnen die milchig goldenen Beeren vom grünen Gerippe.
Sie waren sauer und süß zugleich, die Kerne bitter und der Saft warm.
Durch den heißen Garten ging ich zurück ins Haus. Eine
große blaugrüne Libelle zuckte über den Büschen auf wieeine
Erinnerung, stand einen Augenblick in der Luft und verschwand. Es roch nach reifen
Beeren und Erde und auch nach etwas Fauligem: Kot vielleicht, totes Tier und
verrottetes Fruchtfleisch. Ich hatte plötzlich Lust, mit den Händen den Giersch
auszureißen, der sich ausgebreitet hatte. Es drängte mich, hinzuknien und die
Wickensprösslinge, die sich blindlings um Zaunpfähle, Blumenstängel und Gräser
geschlungen hatten – Herr Lexow musste auch sie gesät haben –, an festere Stützen zu
führen. Stattdessen pflückte ich entschlossen ein paar der hohen Glockenblumen ab,
zog die niedrige Pforte hinter mir zu, ging an der Außentreppe und den
Küchenfenstern vorbei und öffnete die Tür zur Diele. Nach dem gleißenden
Vormittagslicht von draußen konnte ich in diesem Dämmer erst gar nichts sehen, umso
heftiger fuhr mir die irdene Kühle unter das schwarze Kleid. Ich tastete nach dem
Rad und schob es hinaus. Dann fuhr ich die Hauptstraße wieder hinauf, Richtung
Kirche. Aber statt nach links bog ich rechts ab, an der kleinen Pferdekoppel vorbei
zum Friedhof.
Das Rad stellte ich auf dem Vorplatz ab, gleich neben ein
anderes altes Herrenrad, pflückte zu meinen Glockenblumen noch ein paar Stängel
Klatschmohn und ging zum Familiengrab.
Herrn Lexow sah ich schon von weitem. Sein weißes Haar
leuchtete vor dem Laub der immergrünen Hecken. Er saß auf einer Bank, die einige
Meter entfernt von Berthas Grab stand. Sein Anblick rührte mich, aber gleichzeitig
störte er mich auch. Ich wollte auch einmal allein hier sein. Als er meine Schritte
im Kies hörte, stand er mühsam auf und kam mir entgegen.
- Ich wollte gerade gehen, sagte er, sicher wollen Sie
hier auch einmal allein sein.
Ich schämte mich, weil er meine Gedanken Wort für Wort gelesen
hatte, und schüttelte deshalb heftig den Kopf.
- Nein. Natürlich nicht. Ich wollte Sie ohnehin noch
fragen, ob Sie nicht nachher vorbeikommen und mir die Geschichte zu Ende erzählen
wollen.
Herr Lexow blickte sich unruhig um.
- Oh, da gibt es nichts mehr hinzuzufügen, denke ich.
- Ja, aber was geschah dann? Bertha heiratete Hinnerk –
und Sie? Wie konnten Sie sie … ich meine, wie konnten Sie meine …
Ich brach verlegen ab: »Meine Großmutter schwängern«
konnte ich ja wohl kaum sagen. Herr Lexow sprach leise, aber mit großem Nachdruck.
- Ich weiß, glaube ich, gar nicht, wovon Sie sprechen.
Ihre Großmutter Bertha war eine gute Freundin, der ich nie etwas anderes als Respekt
entgegengebracht habe. Vielen Dank für die freundliche Einladung, aber ich bin ein
alter Mann und gehe abends früh ins Bett.
Er nickte mir zu, eine gewisse Kühle hatte sich in seinen
Blick geschlichen. Er
Weitere Kostenlose Bücher