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Der Geschmack von Apfelkernen

Der Geschmack von Apfelkernen

Titel: Der Geschmack von Apfelkernen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hagena
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Tanten gesessen hatte.
    Früher hockten Rosmarie, Mira und ich oft hier: Als wir
     kleiner waren wegen der Geheimnisse unter den Steinplatten, später wegen der
     Abendsonne. Diese Außentreppe war ein wunderbarer Ort, er gehörte zum Haus ebenso
     wie zum Garten. Er war mit Kletterrosen bewachsen, doch wenn die Haustür offen
     stand, mischte sich der Steingeruch des Flurs in den Duft der Blüten. Die Treppe war
     nicht oben, nicht unten, nicht drinnen und nicht draußen. Sie war dafür da, den
     Übergang zwischen zwei Welten sanft, aber doch bestimmt vorzubereiten. Vielleicht
     mussten wir als Teenager deshalb so viel auf solchen Treppen kauern oder in
     Türrahmen lehnen, auf kleinen Mauern sitzen, an Bushaltestellen herumhängen, auf
     Eisenbahnschwellen laufen und von Brücken gucken. Wartende auf der Durchreise,
     gefangen im Zwischenraum.
    Manchmal saß Bertha mit uns auf der Treppe. Sie war
     angespannt, denn auch sie schien zu warten, aber sie wusste nicht genau, auf wen
     oder was. Meistens wartete sie auf jemanden, der schon tot war, ihren Vater, später
     dann Hinnerk und ein, zwei Mal auch auf ihre Schwester Anna.
    Hin und wieder nahm Rosmarie eine Weinflasche und Gläser
     mit hinaus, sie kam aus Hinnerks Weinvorräten im Keller. Obwohl er Sohn eines Wirtes
     war, wusste er nicht viel über Wein. Im Dorfkrug hatte man eher Bier getrunken. Er
     kaufte Wein, wenn er ihm irgendwobesonders günstig erschien,
     mochte lieblichen Wein lieber als trockenen und weißen lieber als roten. Mira trank
     nur dunkelroten, fast schwarzen Wein. Doch der Keller war voller Flaschen, und
     Rosmarie fand immer eine dunkle.
    Ich trank nicht mit. Alkohol machte mich dumm. Filmriss,
     Blackout, Bewusstlosigkeit – all solche fürchterlichen Dinge konnten beim Trinken
     geschehen, das wusste man ja. Und ich hasste es, wenn Rosmarie und Mira Wein
     tranken. Wenn sie laut wurden und zu viel lachten, war es, als klappte ein riesiger
     Fernsehbildschirm zwischen uns hoch. Durch das Glas konnte ich meine Kusine und ihre
     Freundin betrachten wie einen Tierfilm über Riesenspinnen, bei dem der Ton abgedreht
     war. Ohne die nüchternen Erklärungen des Sprechers blieben die Geschöpfe abstoßend,
     fremd und hässlich.
    Mira und Rosmarie bemerkten nichts, ihre Spinnenaugen
     waren selbst schon etwas glasig geworden, und sie schienen sich ihrerseits über
     meinen starren Blick zu amüsieren. Ich blieb immer ein bisschen länger, als ich es
     ertragen konnte, erhob mich dann steif und ging hinein. Niemals wieder würde ich
     einsamer sein als damals auf der Treppe mit den zwei Spinnen-Mädchen.
    Wenn Bertha dabei war, trank sie mit. Rosmarie schenkte
     ihr nach, und da Bertha vergessen hatte, ob sie nun ein oder drei Glas Wein
     getrunken hatte, hielt sie auch immer wieder ihr Glas hin. Oder sie schenkte sich
     selbst nach. Ihre Sätze wurden dann noch wirrer, sie lachte, ihre Wangen färbten
     sich rosa. Mira hielt sich zurück, wenn Bertha dabei war, vielleicht aus Respekt,
     vielleicht aber auch wegen ihrer Mutter. Denn Frau Ohmstedt, Miras Mutter, war dafür
     bekannt, dass sie gerne einen über den Durst trank. Einmal hatte Berthauns zugenickt und gesagt, was sie immer sagte: »Der Apfel fällt
     nicht weit vom Stamm.« Da war Mira blass geworden, hatte ihr Glas genommen, aus dem
     sie gerade trinken wollte, und es in die Rosen geschüttet.
    Rosmarie ermunterte Bertha zum Trinken, vielleicht weil
     sie so ihr eigenes Trinken besser rechtfertigen konnte. Aber es stimmte auch, wenn
     sie sagte:
    - Trink, Oma, dann musst du nicht so viel weinen.
    Bertha trank nur einen Sommer lang mit uns Wein auf der
     Treppe. Bald darauf wurde sie zu rastlos, um irgendwo zu sitzen, und am Ende des
     folgenden Sommers war Rosmarie tot.

    Die Sonne stand tiefer, mein Glas war leer. Jetzt, wo ich
     hier war, konnte ich auch Miras Eltern besuchen und mich nach ihrer Tochter
     erkundigen. Von ihrem Bruder hatte ich ja nicht viel erfahren. Diesmal fuhr ich
     nicht nach links ins Dorf hinein, sondern ein Stück Richtung Stadt. Die Klingel
     ertönte immer noch in der vertrauten Kuckucks-Terz von damals. Der Garten war
     ziemlich verwildert und so gar nicht mehr das Musterbeispiel von geometrischem
     Heckenschnitt und mit Bindfaden gezogenen Rabatten.
    - Na, hat dein Vater wieder mit deinem Geodreieck
     gespielt? pflegte Rosmarie zu spotten, wenn Mira uns die Tür aufmachte. Jetzt stand
     das Gras hoch, die Hecken und Bäume waren ungeschnitten, und das

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