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Der Geschmack von Apfelkernen

Der Geschmack von Apfelkernen

Titel: Der Geschmack von Apfelkernen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hagena
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größer wurden, nahm sie nicht wahr, gespürt hatte sie
     schon etwas, aber nicht darüber nachgedacht. Friedrich sagte nichts, er schaute sie
     nur an, fragte nach ihrem Zyklus. Harriet zuckte schlaftrunken mit den Schultern und
     schloss die Augen. In dieser Nacht weckte er sie, legte sich auf ihren Rücken, nahm
     sie zärtlich und zugleich energisch von hinten und verließ noch in derselben Nacht
     ihre Wohnung. Harriet fand das noch nicht weiter schlimm. Das war zwar anstrengend,
     aber nichts Besonderes. Als sie in seinen Schrank schaute, sah sie, dass selbst die
     spärlichen Kleidungsstücke verschwunden waren, und musste sich übergeben. Doch diese
     Übelkeit hörte danach gar nicht mehr auf. Sie erbrach sich morgens, mittags, abends
     und sogar nachts. Während sie im Badezimmer über der Toilettenschüssel kniete,
     erinnerte sie sich plötzlich an seine letzte Frage. Harriet kniff die Augen so fest
     sie konntezusammen, aber sie flog nicht mehr. Sie hoffte, er
     würde zurückkommen, glaubte es aber nicht. Und ihr Gefühl, Harriet selbst nannte es
     Intuition, trog sie nicht.

    Zwei Jahrzehnte später, Rosmarie war fünf Jahre tot, ging
     Inga in Bremen an einer Arztpraxis vorbei. Sie las das Schild mehr aus Gewohnheit
     denn aus Interesse. Und als sie schon an der nächsten Kreuzung war, wurde ihr mit
     einem Schlag klar, welcher Name auf dem Schild gestanden hatte. Sie ging noch einmal
     zurück. Und tatsächlich: Dr. Friedrich Quast, Kardiologe. Natürlich. Ein
     Herzspezialist, dachte Inga, schnaubte verächtlich und wollte schon hineingehen.
     Doch dann überlegte sie es sich und rief ihre Schwester Harriet an.

    Die schwangere Harriet war nicht am Boden zerstört, als
     ihr klar wurde, dass sie jetzt ganz allein ein uneheliches Kind aufziehen würde. Das
     Spucken hörte irgendwann auf. Sie machte ihr Examen, und das sogar recht gut. Die
     Blicke und das Getuschel der Kommilitoninnen fochten sie nicht so an, wie sie
     befürchtet hatte, und es wurde auch gar nicht so viel getuschelt, wie sie erwartet
     hatte. Nur als sie Cornelia zufällig in der Stadt traf und diese mit vielsagendem
     Blick auf ihren Bauch kopfschüttelnd an ihr vorbeilief, da setzte sie sich in ein
     Café und weinte. Sie rang sich durch und schrieb ihren Eltern und war nicht darauf
     gefasst, dass die Antwort so ausfallen würde. Bertha schrieb ihrer Tochter, dass sie
     sich wünschte, Harriet möge nach Hause kommen. Sie habe mit Hinnerk gesprochen, und
     er sei nicht glücklich über die ganze Geschichte. Aber – und das war das einzige Mal
     in ihrem Leben, dass Bertha dieses Argument gegen ihren Mann anführte – aber das
     Haus sei nicht nur Hinnerks, sondernvor allem auch ihr eigenes,
     Berthas, Elternhaus und groß genug sowohl für ihre Tochter als auch ihr Enkelkind.
    Harriet fuhr zurück nach Bootshaven. Als Hinnerk ihren
     Bauch sah, drehte er auf dem Absatz um und ging für den Rest des Tages ins
     Arbeitszimmer. Doch er sagte nichts. Bertha hatte sich durchgesetzt. Keiner hat je
     erfahren, wie hoch der Preis war, den sie dafür zahlen musste.

    Während Harriets Schwangerschaft sprach ihr Vater kein
     einziges Wort mit ihr. Bertha tat, als merke sie nichts davon, und plauderte mit
     beiden, aber sie war abends früh müde, ihr blondes Haar löste sich aus der
     toupierten Hochfrisur, und sie sah abgekämpft aus. Ihre jüngste Tochter jedoch sah
     das nicht, sie war inzwischen ganz in sich hineingekrochen. Morgens saß sie in ihrem
     alten Zimmer und übersetzte. Durch die freundliche Vermittlung eines Professors, der
     ihre Arbeit schätzte – oder sie hatte ihm einfach nur leidgetan –, war sie an einen
     Verlag gekommen, der sich auf Biographien spezialisiert hatte. Die Gattung
     lag Harriet, und das Übersetzen ging ihr leicht von der Hand. So tippte sie oben in
     ihrer Mansarde, umgeben von Enzyklopädien und Wörterbüchern, mit zehn Fingern auf
     einer grauen Olympia und ließ ein fremdes Leben nach dem anderen in einer neuen
     Sprache auferstehen.
    Zum Mittagessen kam sie hinunter. Mutter und Tochter aßen
     zusammen in der Küche. Seit Harriet wieder zu Hause war, blieb Hinnerk mittags im
     Büro. Harriet spülte ab, und Bertha legte sich kurz auf das Sofa im Wohnzimmer.
     Danach ging Harriet wieder an die Arbeit, aber nur bis zum frühen Nachmittag. Gegen
     vier hörte sie auf, legte eine weiche graue Plastikhülle über dieSchreibmaschine und schob den Stuhl zurück. Inzwischen war sie schon recht
    

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