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Der Geschmack von Apfelkernen

Der Geschmack von Apfelkernen

Titel: Der Geschmack von Apfelkernen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hagena
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schwerfällig und stapfte langsam die Treppen hinab. Wenn sie den Schritt ihrer
     Tochter hörte, legte Bertha die Bohnen beiseite, die sie gerade schnibbelte, stellte
     den schweren Wäschekorb ab, mit dem sie gerade durch die Diele laufen wollte, oder
     ließ den Bleistift sinken, mit dem sie gerade in ihr Haushaltsbuch schrieb. Sie
     wurde ganz still, lauschte und griff sich an den Hals. Manchmal entrang sich ihrer
     Kehle ein trockenes Schluchzen.
    Harriet merkte von alldem nichts. Sie ging langsam hinaus
     in den Garten, es war Spätsommer, nahm eine Hacke und jätete die Beete. Das Bücken
     war schwierig geworden. Wenn sie nicht die Beine ganz weit auseinanderschob, sodass
     der Bauch dazwischen Platz fand, drückte es ihr die Luft ab und tat weh. Trotzdem
     zog Harriet das Unkraut heraus. Tag für Tag, Beet für Beet. Und wenn sie fertig war,
     fing sie vorne wieder an. Auch an Regentagen ging sie nach hinten zur Kuhweide, wo
     sonst die Wäsche auf der Leine hing, und watete durch das hohe Gras zu den großen
     Brombeerhecken, um Brombeeren zu pflücken. Die Regentropfen ließen die schwarzen
     Früchte noch größer erscheinen und machten sie schwer und weich. Saft und Wasser
     rannen Harriet in die Ärmel. Und bei jeder Beere, die sie pflückte, schüttelte sich
     der Busch wie ein nasser Hund.
    Nach ein oder zwei Stunden im Garten setzte sie sich auf
     einen alten Klappstuhl, eine Bank, lehnte den Kopf an die überdachte Hauswand oder
     einen Baumstamm und schlief ein. Libellen zuckten über sie hin, Hummeln verhedderten
     sich in ihrem roten Haar, aber Harriet spürte nichts davon. Sie flog nicht, sie
     träumte nicht, sie schlief wie ein Stein.
    Nachts schlief sie dafür umso schlechter. Es war heiß unter dem
     Dach, heiß unter der schweren Decke, unter ihren Brüsten schwitzte sie, warm lagen
     sie an ihrem großen Bauch. Auf dem Bauch schlafen ging nicht. Auf dem Rücken liegend
     wurde ihr schwindelig. Auf der Seite taten ihr nach kurzer Zeit die Gelenke weh,
     Knie, Hüfte und die Schulter, auf der sie lag. Außerdem wusste sie nicht, wohin mit
     dem unteren Arm, er schlief meistens vor ihr ein, und das war unangenehm. Jede Nacht
     stand Harriet auf, schleppte sich die Treppe hinunter, um auf die Toilette zu gehen.
     Als sie aber anfing, zwei Mal nachts aufzustehen, nahm sie schließlich den
     Nachttopf, den sie als Kind auch schon benutzt hatte. Damals, als der Weg hinunter
     zu lang, zu steil und zu kalt war, um ihn jede Nacht zurückzulegen. Wenn Harriet
     erst einmal aufgestanden war, ging sie nicht sofort wieder zurück ins Bett. Die
     Fenster waren offen, dennoch strömte die kühle Nachtluft nur zögerlich in die oberen
     Räume. Harriet stellte sich vor das Fenster, und der Zugwind bauschte ihr Nachthemd
     wie ein großes Segel.
    Rosmarie erzählte, Harriet habe ihr erzählt, dass die
     Leute, die unten an der Straße entlangkamen, gesehen hatten, dass ein weißes
     Gespenst auf dem Dachboden des Hauses umherschwebte. Das musste Harriet gewesen
     sein. Sie verließ das Grundstück nie, und so hatten einige Leute im Dorf gar nicht
     mitbekommen, dass sie wieder zurück war. Die meisten wussten natürlich Bescheid,
     auch über ihren Zustand, und es wurde viel geredet.
    Damals musste es angefangen haben, dass die Bücher der
     oberen Bücherschränke verstellt wurden. Das geschah alle paar Monate einmal. Immer
     wieder standen alle Bücher plötzlich anders als vorher, und jedes Mal hatte man das
     Gefühl, dass es nicht willkürlich geschehen war,sondern nach
     einem bestimmten Muster. Mal hatten wir den Eindruck, die Form der Bücher gab den
     Ausschlag, mal die Beschaffenheit ihrer Umschläge, mal fanden wir, dass die Autoren,
     die gerade aneinanderlehnten, sich viel zu sagen gehabt hätten, ein anderes Mal
     standen gerade die eng zusammen, die sich gehasst und verachtet hätten.
    Aber Harriet gab es niemals zu.
    - Warum sollte ich wohl so etwas tun? fragte sie ihre
     Tochter und mich und sah uns mit freundlichem Erstaunen an.
    - Wer sollte es sonst getan haben? fragten wir zurück.
    - Schließlich fliegst du doch, wenn du schläfst, fügte
     Rosmarie trotzig hinzu.
    Harriet lachte laut.
    - Wer hat euch das schon wieder erzählt! Sie lachte noch
     einmal, schüttelte den Kopf und ging aus dem Zimmer.

    Ich fragte mich allerdings immer noch, wer die Bücher oben
     verstellt hatte. War es die ganze Zeit über Bertha gewesen? Wenn sie vom Heim aus zu
     Hause zu Besuch war? Doch jetzt

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