Der Geschmack von Apfelkernen
kniete ich hier unten vor dem Schreibtisch meines
toten Großvaters und hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich ein Gedichtbuch
gefunden hatte, das er vor über vier Jahrzehnten geschrieben hatte. Ich legte es
wieder zurück. Das wollte ich mir für ein andermal aufheben. Jetzt musste ich mich
um das Hühnerhock kümmern.
Ich holte meine grüne Tasche mit dem Portemonnaie darin
und fuhr los. Am Ortseingang gab es einen riesigen Baumarkt. Ich schloss mein Rad
nicht ab, ging hinein und schnappte mir einen großen Eimer Farbe, zwei wären besser
gewesen, aber ich war mit dem Fahrrad da, mehr als ein Eimer ging nicht, und selbst
bei diesem warich mir nicht sicher, wie ich ihn zurückschaffen
sollte. Ich griff noch nach einer Malerrolle und einer Flasche Terpentin und ging
zur Kasse. Die Kassiererin, sie war vielleicht so alt wie ich, musterte mich und zog
die Mundwinkel herab. Ich machte, dass ich mit meinem Kram hinauskam. Erst beim
Versuch, den Farbeimer auf dem Gepäckträger festzuklemmen, wobei mir der Saum meines
Kleides in die Kette geriet, wurde mir klar, warum die Kassiererin so frech geguckt
hatte. Ich hatte immer noch das goldene Kleid an, und der Anblick des abgerissenen
Saumes – jetzt auch noch mit schwarzen Schmierölflecken – trug nicht dazu bei, mein
Selbstbewusstsein zu stärken und meine Laune zu heben. Ich stopfte Rolle und
Terpentin in die Tasche, hängte sie mir quer über die Schulter, raffte das Kleid und
klemmte es in die Beinausschnitte meiner Unterhose, damit es kürzer wurde. Beim
Aufsteigen auf das Herrenrad rutschte mir um ein Haar der schwere Farbeimer vom
Gepäckträger. Ich bekam ihn gerade noch zu fassen, schlenkerte dabei jedoch
gefährlich mit dem Rad und fuhr fast in einen unschuldigen Baumarktbesucher. Er rief
mir etwas hinterher, das nach »blöder Junkie« klang. Wahrscheinlich glaubte der
Mann, ich säße den ganzen Tag mit meinen Freunden im Schneidersitz in der Garage, um
dort einen 20-Liter-Eimer weißer Farbe nach dem anderen wegzuschnüffeln. Betroffen
griff ich hinter mich, drückte den Eimer fest auf den Gepäckträger und fuhr
einhändig und etwas verschwitzt den Weg zum Haus. Kurz vorher bog ich rechts in Max’
Straße ein, ich wollte noch eben bei ihm vorbei und ihn fragen, ob noch Akten meines
Großvaters im Keller des Büros deponiert waren. In Wirklichkeit wollte ich ihn aber
einfach nur sehen, mein nächtliches Nachdenken hatte nämlich zu keinem Ergebnis
geführt. DerGurt meiner Tasche schnitt mir inzwischen schmerzhaft
in den Hals. Die Tasche selbst wurde beim Fahren von einem Knie auf das andere
geworfen, wobei das Kleid langsam aus meiner Unterhose gezogen wurde und schon
wieder in die Fahrradkette hing. Ich konnte aber nichts machen, weil ich mit einer
Hand den Eimer und mit der anderen die Lenkstange festhalten musste. Aber dann war
sowieso alles egal, denn gerade als ich fast bei Max angekommen war, flog mir eine
kleine schwarze Fliege ins Auge. Sie zwickte mich gewaltig, und bald sah ich nichts
mehr, weil meine Augen heftig tränten. Das Auto parkte einfach auf der rechten
Seite, durfte es das? Wahrscheinlich schon, ich fuhr jedenfalls dagegen, ließ den
Eimer los, ließ auch das Lenkrad los, das Rad kippte, vorher kippte der Eimer auf
die Straße, und ehe ich noch um Hilfe schreien konnte, klatschte mir meine eigene
Tasche mit der schweren Terpentinflasche ins Gesicht, und ich blieb stumm.
Wenigstens hatte sie mich nicht niedergestreckt, denn zu Boden war ich schon vorher
gegangen. Inzwischen hatte sich auch der Inhalt des durch den Aufprall geplatzten
Eimers über die Straße ergossen und floss mir in die Haare und ins linke Ohr, auf
dem ich lag. Aufstehen war unmöglich, denn irgendwie hatten sich meine Füße und auch
meine Tasche in das Fahrrad gewickelt, ganz zu schweigen von meinem – früher einmal
goldenen – Kleid. Ich hatte nicht vor, lange hier herumzuliegen, ich wollte mich nur
sammeln, meine Extremitäten ordnen und dann die paar Meter nach Hause schieben. Da
hörte ich Schritte an meinem rechten Ohr, am linken nicht, da war ja die weiße Farbe
drin.
- Iris? Iris, bist du das? fragte eine Stimme irgendwo
über mir. Es war die von Max. Ich hatte das Gefühl, alszeigte ich
mich gerade nicht von meiner vorteilhaftesten Seite, und wollte schon zu einer
wortreichen Erklärung ansetzen, da fing ich tatsächlich an zu heulen. Auf diese
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