Der Geschmack von Apfelkernen
ich sprang, sah ich noch, wie Max ins Wasser rannte, dass es nur so spritzte.
Als ich wieder auftauchte, zog Max seine Schwester schon Richtung Ufer. Sie hustete, aber sie schwamm.
Sie taumelte an Land und legte sich ins hohe Gras am Ufer. Max saß neben ihr. Sie sprachen nicht miteinander. Als ich aus dem Wasser stieg und Rosmarie von oben angerannt kam, sah er uns drei der Reihe nach an, spuckte ins Wasser, stand auf und ging weg. Schwang sich mit der nassen Badehose aufs Rad und fuhr davon.
Rosmarie und ich setzten uns neben Mira, die immer noch die Augen geschlossen hatte und schnell atmete.
- Ihr spinnt.
Sie stieß die Worte hervor.
- Es tut mir leid, Mira, ich …
Ich fing an zu weinen.
Rosmarie schwieg, blickte auf Mira. Als Mira endlich die Augen aufmachte, um Rosmarie anzuschauen, legte diese den Kopf in den Nacken und lachte. Miras kleiner roter Mund verzog sich – war es vor Schmerz, aus Hass, oder musste sie auch weinen? Ihr Mund öffnete sich, es folgte ein kurzer röchelnder Laut, dann begann sie zu lachen, erst leise, dann laut, hilflos, schrill. Rosmarie ließ sie dabei nicht aus den Augen. Ich saß daneben und heulte.
- Max?
- Hm?
- Damals bei der Schleuse –
- Hm?
- Es tat mir so leid. Ich frage mich –
- Hm?
- Ich frage mich, ob das was mit Rosmaries Tod zu tun hatte.
- Keine Ahnung. Glaube ich aber nicht, das war ja nicht einmal im selben Sommer. Das war doch lange vorher. Wie kommst du jetzt da drauf?
- Ach. Keine Ahnung.
- Weißt du, vielleicht hatte alles was damit zu tun. Also, vielleicht hatte auch das etwas damit zu tun, das und das Wetter, und das, was hier auf dem Hühnerhaus steht, und ein paar Tausend andere Sachen auch noch. Verstehst du?
- Hm.
Ich strich mir die Haare aus der Stirn. Wir malten weiter. Es war immer noch warm. Übermalen brachte nicht viel, man konnte die rote Aufschrift nach wie vor gut lesen. Nazi. Hinnerk selbst hatte oft das Wort Sozi gebraucht. Die Sozis mochte er nicht, das war nicht zuüberhören. Er schimpfte auf die Rechten, auf die Linken, auf alle Parteien und alle Politiker. Er verachtete das ganze korrupte Pack, was er allen, die es hören wollten, vor allem aber denen, die es nicht hören wollten, gern und oft mitteilte. Mein Vater zum Beispiel wollte es nicht hören, er war selbst Mitglied des Gemeinderates und setzte sich bei uns zu Hause sehr für Fahrradrampen an Bordsteinen, das nächtliche Abschalten von Ampeln auf menschenleeren Straßen und für Kreuzungen mit Kreisverkehr ein.
Die Gedichte, so erzählte es Harriet, hatte Hinnerk nach dem Krieg geschrieben, als er nicht mehr als Anwalt arbeiten durfte. Er war zur Entnazifizierung nach Süddeutschland geschickt worden. Mein Großvater war nicht nur einfaches Parteimitglied gewesen, ich konnte das Max gegenüber nicht offen zugeben. Von Harriet wusste ich, dass er zweiter Kreisrichter gewesen war. Er hatte Glück, dass er keine schlimmen Urteile unterschreiben musste. Meine Mutter, die ihn oft in Schutz nahm, hatte erzählt, dass er den Herrn Reimann, Hufschmied und bekennender Kommunist, freigesprochen habe. Bei Herrn Reimann hatte er als Schüler oft in der Werkstatt gesessen, der Anblick des glühenden Metalls ängstigte und begeisterte ihn zugleich. Er liebte das Zischen und Dampfen des Wassers. Die fertigen Hufeisen, die aus dem Wasser kamen, erschienen ihm jedoch wie Abfallprodukte. Sie waren hart und stumpf und braun und tot. Wohingegen sie vorher rot, ja magisch leuchteten, als hätten sie ein eigenes Leben. Hinnerk musste in der Schule zunächst Hochdeutsch lernen. Christa sagte, der Lehrer habe die Schulanfänger gefragt, was der Satz bedeute: »Quäle nie ein Tier im Scherz, denn es fühlt wie du den Schmerz.« Da habe sich Hinnerkgemeldet und gesagt: »as wenn eck dat wer.« Hinnerk hatte Glück, seine Eltern gaben dem Drängen des Pastors nach und schickten ihn dann doch noch auf die Oberschule. Gleich danach brach der Krieg aus, Hinnerks Vater wurde eingezogen, aber Hinnerk blieb auf der Schule. Also, pflegte meine Mutter zu sagen, wenn der Erste Weltkrieg ein halbes Jahr früher losgegangen wäre, hätte Hinnerk nie die Schule besucht, hätte er nie studiert, hätte er niemals Bertha heiraten können, hätte er niemals sie, Christa, bekommen, hätte es auch mich, Iris, nie gegeben. Mir wurde früh klar, dass Schule wichtig war. Lebenswichtig.
Als dann der Zweite Weltkrieg ausbrach, war Hinnerk schon ein Familienvater, kein siegessüchtiger Heißsporn. Er wollte
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