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Der Geschmack von Apfelkernen

Der Geschmack von Apfelkernen

Titel: Der Geschmack von Apfelkernen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hagena
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Nicht, dass Bertha ihr Schwein unter den anderen Schweinen hätte erkennen können, nein, aber sie musste Emma glauben. Was blieb ihr übrig. Davon schrieb sie Hinnerk. Und wie sie bei Schnee mit dem Fahrrad bei einem Mann war, dem Berthas Vater einmal einen Gefallen getan hatte. Bei ihm holte sie sich eine Axt, weil ihre zerbrochen war. Bertha schuftete und konnte ihre Familie am Leben halten. Sie hatten Ursel, die Kuh. Es kamen fremde Menschen ins Haus, Flüchtlinge aus Ostpreußen, die dort einquartiert wurden. Das war schwierig, schrieb Bertha, wenn man sich die Küche teilen musste. Nach dem Krieg wohnten auch englische Soldaten im Haus. Sie machten Feuer in der Küche, einfach so auf dem Fußboden. Sie waren schrecklich laut. Aber freundlich zu den Kindern. Bertha berichtete von den Flüchtlingsströmen, die die Hauptstraße hinunterkamen. Die Mädchen standen am Zaun und sahen, wie täglich Hunderte von Menschen mit Pferden und Taschen und Handwagen und Körben am Haus vorbeizogen. Das fanden sie sehr aufregend. Wochenlang luden sie alles, was sie im Haus finden konnten, in den Kinderwagen der zweijährigen Harriet, zogen sich über, was sie in den Schränken finden konnten, und humpelten im Gänsemarsch über den Hof. »Wir spielen Flüchtling«, erklärten sie ihrer Mutter und quartierten sich daraufhin zwangsweise im Hühnerhock ein. Davon schrieb Bertha ihrem Mann. Sie reiste quer durch Deutschland, um ihn zu besuchen. Ohne die Kinder.

    Und dann kehrte er zurück. Er war nicht verstört, er war auch nicht böse oder krank. Er war nicht anders als vorher, nicht launischer, nicht milder. Hinnerk war einfach nur froh, wieder zu Hause zu sein. Er wollte, dass alleswieder so war wie früher, und riss sich zusammen. Nur seine jüngste Tochter Harriet, sie war noch ein Baby gewesen, als er fortging, die nannte er von da an Fjodor. Warum, wusste niemand. Wer war Fjodor? Christa und Inga malten sich aus, dass Fjodor ein kleiner russischer Junge gewesen sein musste mit schrägen hellblauen Augen und struppigen dunklen Haaren. Er rettete meinem Großvater das Leben, weil er ihn in seinem Baumhaus versteckt gehalten und mit Brotrinden am Leben erhalten hatte. Aber er war doch überhaupt nicht bis nach Russland gekommen.
    Nach Hinnerks Heimkehr trat Bertha, ohne zu murren, in die zweite Reihe zurück. Sie zeigte ihm das Haushaltsbuch, das er prüfte. Sie überließ ihm die Entscheidung, ob Ursel behalten oder verkauft werden sollte. Er wollte sie behalten, sie blieb, obwohl sie kaum noch Milch gab. Es lebten immer noch fremde Menschen im oberen Stockwerk des Hauses. Das missfiel Hinnerk. Er schimpfte auf das feine ältere Ehepaar, auch wenn sie es hören konnten. Es wurde auf einmal alles zu eng, und Bertha, die sich bisher wunderbar die Küche mit diesem Ehepaar geteilt hatte, musste nun Pläne erstellen, wer wann wo sein durfte. Sie schämte sich, aber sie tat es.
    Hinnerk, obgleich aus der Partei ausgetreten, war zweiter Kreisrichter gewesen. Er hatte einen höheren Posten im Naziregime eingenommen und verlor damit seine Zulassung als Rechtsanwalt. Bald wurde er von den Amerikanern in das Entnazifizierungslager geschickt. Meine Mutter erzählte mir, dass sie und ihre Schwestern sich alle paar Monate fein anziehen mussten. Dann fuhren sie mit der Eisenbahn nach Darmstadt, um ihren Vater zu besuchen. Als Inga, sie war acht, ihn fragte, was er hier dennso mache den ganzen Tag, schaute er sie nur an und sagte nichts.
    Auf der Rückfahrt von diesen Besuchen erklärte Bertha ihren Töchtern, dass ihr Vater dort von den Engländern und Amerikanern noch geprüft werde, damit er bald wieder arbeiten könne. Meine Mutter gestand mir, sie habe sich jahrelang immer eine Art Juraexamen vorgestellt, nur auf Englisch.
    Dann kam er zurück, erhielt seine Anwaltszulassung zurück und verlor nie wieder ein Wort über diese anderthalb Jahre. Und auch nicht über die Jahre davor.

    Inga erzählte, dass Hinnerk in seinem Testament verfügt hatte, dass seine Tagebücher nach seinem Tode verbrannt werden sollten. Und das hätten sie auch getan.
    - Und du hast nicht vorher reingeschaut? fragte Rosmarie ungläubig.
    - Nein, sagte Inga und sah Rosmarie an.

    Hinnerk mochte Feuer. Ich sah ihn oft tagelang Feuer im Garten machen, er stand da und stocherte mit einer Mistgabel in der Glut. Wenn Rosmarie, Mira und ich dazukamen, dann sagte er:
    - Wisst ihr, es gibt drei Dinge, auf die man unentwegt gucken kann, ohne ihrer überdrüssig zu

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