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Der Geschmack von Apfelkernen

Der Geschmack von Apfelkernen

Titel: Der Geschmack von Apfelkernen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hagena
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es mir irgendwie egal war. Einzig das Klischee mit Arzt und Krankenschwester hat mich aufgebracht. Mein Herz war nicht gebrochen. Nicht einmal verstaucht. Wahrscheinlich habe ich keines mehr, es ist hier in der moorigen Landschaft einfach versumpft.
    - Als du klein warst, da hattest du eins.
    - Tatsächlich? Wie beruhigend.
    - Als du Mira aus dem Wasser gezogen hast. An der Schleuse.
    - Aber war das ein Zeichen von Herz? Das war eher so etwas wie meine Pflicht. Und ich habe es auch nicht gern getan.
    - Nein, aber Herz hast du gezeigt, als du uns danach nie mehr gegrüßt hast.
    - Ihr wart mir unheimlich.
    - Ach komm, du fandest uns toll.
    - Zum Fürchten.
    - Du warst in uns verknallt.
    - Ihr wart total durchgeknallt.
    - Du fandest uns schön.
    Max schwieg.
    - Du fandest uns schön!
    - Ja, verdammt. Na und?
    - Nur so.
    Wir strichen weiter.
    Nach ein paar Minuten ertönte Max’ Stimme noch einmal dumpf von rechts:
    - Die Aufschrift auf der Wand hier hat entweder einer hingemalt, der nicht den geringsten Schimmer davon hatte, was er schreibt, oder jemand, der Hinnerk Lünschen gut gekannt hat. Denn eine rechte Szene gibt es in Bootshaven nicht. Hier gibt es überhaupt keine Szene. Es sei denn, du meinst die Autowäscherszene oder die Geranien-in-Waschbetonblumenkästen-Züchter-Szene. Hier ist so wenig los, dass ich mich manchmal auf den Friedhof setze und Rotwein saufe, nur damit irgendetwas passiert. Ich bin ein langweiliger Typ und gerade noch intelligent genug, um es zu merken. Pech für mich.

    Ich schwieg. Ich hatte keine Lust, ihn zu trösten, und glaubte auch nicht, dass er nach Trost verlangte. Es stimmte ja auch irgendwie. Was sah ich in diesem glatten Junganwalt? Wahrscheinlich die Vergangenheit. Ich nahm an, es war mir wichtig, dass er mich noch so vor Augen hatte, wie ich damals war, ein pummeliges blondes Mädchen, das krampfhaft versuchte, die Aufmerksamkeit von zwei älteren Mädchen zu erhaschen. Er kanntemich als Berthas Enkelin, als Rosmaries Kusine, als Hinnerks »leewe Deern«. Und auch wenn Max sich, wie alle kleinen Brüder, zwischen acht und dreizehn irgendwie in Luft auflöste, so hatte er uns doch gesehen. Manchmal musste Mira ihn mit zu uns rüberbringen, dann würdigten wir ihn keines Blickes und er uns auch nicht, aber ich merkte, wie er uns wahrnahm. Ich konnte es deshalb spüren, weil wir beide dieselbe Gleichgültigkeit an den Tag legten, in die sich immer auch ein guter Teil Verzweiflung mischte.
    Außer meinen Eltern und Tanten kannte ich niemanden, der uns gesehen hatte, wie wir damals waren. Doch die zählten nicht, da sie nie aufhörten, uns so zu sehen. Max aber sah mich jetzt. Was für ein Glück, dass er so nett war. Wahrscheinlich musste er das sein, Mira hatte ja alle anderen Eigenschaften schon besetzt. Sie war wild, er brav. Sie fiel auf, er machte sich unsichtbar. Sie ging fort, er blieb. Mira wollte Drama, Max seine Ruhe. Und weil er so nett war, hatten wir ihn natürlich auch nie bemerkt. Welches Mädchen, das etwas auf sich hielt, bemerkte schon nette Jungs?

    Aber nun hatte ich ihn ja bemerkt, und ich fragte mich, warum ich ihn bemerkt hatte. Tod und Erotik gingen natürlich immer schon zusammen, aber abgesehen davon? Weil wir beide gerade niemanden hatten? Ich hatte Jon verlassen, weil ich »nach Hause« wollte: Jeder Mensch wusste, dass man mit seinen Wünschen vorsichtig zu sein hatte, weil sie womöglich in Erfüllung gehen konnten. Max kam mit dem Haus. Das Haus. Geteiltes Vergessen war ein genauso starkes Band wie gemeinsame Erinnerungen. Vielleicht noch stärker.
    Und das Geheimnis von dem Mann mit der Flascheauf dem Friedhof war damit auch gelüftet. Lange konnte auf dem Dorf nichts geheim bleiben, nicht einmal vor mir. Sicher war es auch schon allen bekannt, dass Max hier stand und Bertha Deelwaters Hühnerhaus anmalte.

    Und was hatte Max damals bemerkt? Der Tag an der Schleuse war einer von den ersten Sommertagen gewesen. Ich erinnerte mich an riesige grüne Fliegenschwärme, als wir mit den Rädern durch die Kuhweiden zum Kanal fuhren. Rosmarie trug ein schmales violettes Kleid, der Fahrtwind pumpte Luft in die bauschigen Ärmel, die aus einem dünnen, durchsichtigen Stoff geschneidert waren. Ihre Arme schimmerten weiß durch den lila Schleierstoff, und es sah aus, als wüchsen aus ihrer Schulter zwei Seeschlangen. Um fahren zu können, hatte sie das Kleid über die Knie gezogen, die Wäscheklammern stellten sich waagrecht im Fahrtwind. Ich musste hinter ihr

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