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Der Geschmack von Apfelkernen

Der Geschmack von Apfelkernen

Titel: Der Geschmack von Apfelkernen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hagena
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werden. Das eine ist Wasser. Das andere ist Feuer. Und das Dritte ist das Unglück anderer Leute.

    Die Brandflecken auf dem Küchenboden, wo die englischen Soldaten ihr Feuer gemacht hatten, sah man immer noch. Aber die rote Schrift auf dem Hühnerhaus war inzwischen unter der weißen Farbe verschwunden. Nun, beinahe. Wenn man wusste, dass sie dort war, dann sahman sie auch. Doch ich fand, man könne es so lassen. Ich ging um die Ecke, um nach Max zu sehen. Er hatte die große Malerrolle zur Seite gelegt und malte inzwischen mit dem Pinsel.
    - Na, wie weit bist du?
    Max blickte nicht auf, sondern pinselte konzentriert weiter.
    - Hallo, Max! Ich bin es. Geht es dir gut? Hast du einen Streichzwang? Einen Krampf? Muss ich dir helfen?
    Max pinselte wild in der Mitte der Wand herum.
    - Nein, alles in Ordnung.
    Ich kam näher, da stellte er sich mir in den Weg und sagte:
    - Äh, bist du schon fertig mit deiner Wand? Lass mal sehen. Kann man das N-Wort noch lesen?
    Mit seinem Körper schob er mich dabei wieder auf meine Seite, betrachtete sie und sagte dann:
    - Ist doch ganz gut geworden.
    - Man sieht es noch.
    - Ja, aber nur, wenn man möchte.
    Ich starrte auf die weiße Wand.
    - Herrje: Ist diese Hühnerhauswand jetzt etwa ein Sinnbild oder sowas?
    Aber Max hörte nicht zu. Er war schon wieder hinter dem Haus verschwunden. Es war dämmrig geworden. Die gestrichene Wand leuchtete weiß. Warum benahm er sich so komisch? Ich stellte mich neben ihn, er schaute immer noch nicht auf. Ich sah, dass er die Wand nicht gleichmäßig von einer Seite zur anderen anstrich, sondern in der Mitte begonnen hatte. Nein, er malte etwas über. Für einen Moment dachte ich, da wäre noch eine rote Aufschrift gewesen, die ich übersehen hatte und die er mir vorenthalten wollte. Vielleicht um mich zuschonen. Aber dann sah ich, dass er etwas wegmachte, das er selbst hingeschrieben hatte. Meinen Namen. Ungefähr ein Dutzend Mal.
    - Iris, ich …
    - Mir gefällt die Wand.
    Wir standen beide vor der Wand und schauten sie eine längere Zeit an.
    - Komm, wir hören auf, Max. Es ist zu dunkel zum Streichen.
    - Geh du rein. Ich mach das noch eben fertig.
    - Sei nicht albern.
    - Nein wirklich, es macht mir Spaß. Außerdem war es meine Idee, heute Abend noch anzufangen.
    Bitte sehr. Ich drehte mich um und begann, meine Malsachen wegzuräumen.
    - Lass alles liegen. Ich mach das schon. Wirklich.
    Ich zuckte die Schultern und ging langsam durch den Garten zur Haustür. Als ich an den Rosen vorbeikam, stellte ich fest, dass sie abends schwermütiger dufteten als tagsüber.
    Ich trank noch einen großen Becher Milch und nahm Hinnerks Gedichtbuch mit ins Bett. Es war in Sütterlin, aber wozu war man schließlich Bibliothekarin? Trotzdem musste ich mich erst an seine Handschrift gewöhnen. Das erste Gedicht war ein Achtzeiler über dicke und dünne Frauensleute. Dann kam ein längeres über Bauern, die gerissene Anwälte mit gespielter Tölpelhaftigkeit bloßstellten. Es gab ein gereimtes Rezept zur Vorbeugung gegen Seuchen, das begann mit:
    »Heidecker, Pestwurz, Ehrenpreis,
    Engelwurz und Lungenkraut,
    Wacholder, Enzian blau, nicht weiß,
    Osterluze unzerkaut …«
    Ich las Gedichte über Irrlichter im Moor, über einen alten, längst versandeten Hafen an der Geeste, an dem bei Vollmond im September ein leerer Nachen anlegte. Und immer wenn er ablegte, fehlte am nächsten Tag ein Kind aus dem Dorf. Hinnerk schrieb über das satte Geräusch, wenn vier Männer auf den Feldern die Flegel schwangen und droschen. Es gab ein Gedicht über die Auswanderer nach Amerika. Ein anderes hieß »Der 24. August« und handelte vom Abreisetag der Störche. Wieder eines ging über die Eisernte am Weiher außerhalb des Dorfes. Ich las ein etwas zotiges Gedicht über den Gemeindebullen, der eine Kuh lädierte, die dann notgeschlachtet werden musste. Über das Tanzvergüngen bei Tietjens auf der Diele. Und am Ende kamen noch zwei unheimliche Gedichte, das eine hieß »De Twölften«. Es handelte von den sechs letzten Nächten des alten und sechs ersten Nächten des neuen Jahres. Wer in dieser Zeit Wäsche aufhing, würde Leichentücher brauchen. Wer ein Rad drehte, auch an einem Spinnrad, für den würde der Totenwagen vorfahren. Denn der Hirskejäger stürmte während dieser Zeit durch die Luft. Das letzte Gedicht des grauen Buchs ging über den Großbrand in Bootshaven im Jahr von Hinnerks Geburt. Die Menschen schrien darin wie Vieh und das Vieh wie Menschen, während das

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