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Der Geschmack von Apfelkernen

Der Geschmack von Apfelkernen

Titel: Der Geschmack von Apfelkernen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hagena
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Busen, aber einen runden Bauch. Ich war die Hässlichste von uns dreien. Rosmarie war die Geheimnisvolle, Mira die Verruchte, ich die Fette. Es stimmte auch, ich aß zu viel. Ich liebte es, zu lesen und dabei zu essen. Ein Brot nach dem anderen, einen Keks nach dem anderen, süß und salzig im stetigen Wechsel. Es war wunderschön: Liebesgeschichten mit Gouda-Käse, Abenteuerromane mit Nuss-Schokolade, Familientragödien mit Müsli, Märchen mit weichen Karamellbonbons, Rittersagen mit Prinzenrolle. In vielen Büchern wurde immer dann gegessen, wenn es gerade am schönsten war: Fleischbällchen und Grütze und Zimtwecken und einen Ring Fleischwurst von der besten. Manchmal, wenn ich auf Nahrungssuche durch unsere Küche streifte, biss sich meine Mutter auf die Unterlippe, nickte mir auf eine bestimmte Weise zu und sagte, dass es jetzt gut sei, dass es in einer Stunde Abendbrot gebe oder dass ich ein bisschen auf meine Linie achten könnte. Warum sagte sie immer, dass es gut sei, wenn es gerade nicht mehr gut war? Sie wusste, dasssie mich durch diese Sätze demütigte, dass ich beleidigt in mein Zimmer gehen und nicht zum Abendbrot kommen würde und dann später heimlich die Mandeln und die Backschokolade klauen und mit ins Bett nehmen würde. Und ich würde lesen und essen, und ich würde eine unglückliche, stumme Meerjungfrau oder ein kleiner Lord sein, würde auf einer einsamen Insel stranden, mit wildem Haar über ein Hochmoor rennen oder Drachen töten. Zusammen mit den Mandeln zermalmte ich meine Wut und meinen Ekel vor mir selbst und schluckte dann beides mit Backschokolade hinunter. Und solange ich las und aß, war es gut. Ich war alles, was man sein konnte, nur nicht ich selbst. Bloß durfte ich um keinen Preis aufhören zu lesen.

    An jenem Tag an der Schleuse las ich nicht. Ich stand nass auf dem Steg und fror unter den Blicken der beiden Mädchen. Ich sah hinunter auf meine Füße, von oben betrachtet, ragten sie weiß und breit unter meinem Bauch hervor, und meine Gänsehaut war höher als meine Brustwarzen.
    Rosmarie sprang auf.
    - Kommt, wir hüpfen von der Brücke.
    Mira erhob sich langsam und streckte sich. In ihrem Bikini sah sie aus wie eine schwarz-weiß gefleckte Katze.
    - Muss das sein?
    Sie gähnte.
    - Ja, es muss sein, meine Süße. Komm auch mit, Iris.
    Mira sträubte sich:
    - Kinderchen, geht woanders spielen, aber lasst bitte die Erwachsenen sich ein bisschen ausruhen, ja?
    Rosmarie schaute mich an, ihre wasserfarbenen Augen schillerten. Sie reichte mir die Hand. Dankbar ergriff ichsie, und wir rannten zusammen zur Brücke. Mira folgte langsam.
    Die Brücke war höher, als wir dachten, aber nicht so hoch, dass man es nicht hätte wagen können. Im Hochsommer sprangen hier die größeren Jungen hinunter. Heute war niemand auf der Holzbrücke.
    - Schau mal, Mira, da unten sitzt dein kleiner Bruder. Hey! Niete!
    Rosmarie hatte recht. Da unten saß Max mit einem Freund auf einem Handtuch. Sie aßen Butterkekse und hatten uns noch nicht gesehen. Als Rosmarie rief, schauten sie hoch.
    - Okay. Wer zuerst? fragte Rosmarie.
    - Ich.
    Ich hatte keine Angst vor dem Springen, ich konnte gut schwimmen. Und wenn ich schon hässlich war, so war ich wenigstens mutig.
    - Nein, Mira springt zuerst.
    - Wieso? Lass doch Iris, wenn sie will.
    - Ich will aber, dass du springst, Mira.
    - Ich will aber nicht springen.
    - Na komm. Setz dich auf das Geländer.
    - Das mache ich gern, aber das war’s dann auch.
    - Schon klar.
    Rosmarie schaute mich wieder an mit diesem Schillern im Blick. Ich wusste plötzlich, was sie wollte. Sie und Mira hatten mich gerade noch ausgelacht, und nun verbündete sich meine Kusine mit mir. Ich war immer noch verärgert wegen vorhin und fühlte mich doch geschmeichelt. Ich nickte Rosmarie zu. Sie nickte zurück. Mira saß auf dem Geländer, ihre Füße baumelten über dem Wasser.
    - Bist du kitzlig, Mira?
    - Ihr wisst, dass ich es bin.
    - Bist du hier kitzlig?
    Rosmarie piekste ein bisschen gegen ihren Rücken.
    - Nein, lass das.
    - Oder hier?
    Rosmarie kitzelte sie halbherzig an der Schulter.
    - Geh weg, Rosmarie.
    Ich stellte mich daneben und rief:
    - Oder hier?
    Und dann kniff ich Mira kräftig in die Seite. Sie zuckte und schrie und verlor das Gleichgewicht und fiel von der Brücke.
    Rosmarie und ich schauten uns nicht an. Wir beugten uns über das Geländer, um zu sehen, was Mira tun würde, wenn sie wieder auftauchte.
    Wir warteten.
    Nichts.
    Sie tauchte nicht wieder auf.
    Bevor

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