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Der Geschmack von Apfelkernen

Der Geschmack von Apfelkernen

Titel: Der Geschmack von Apfelkernen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hagena
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kein Soldat sein, wurde auch nicht eingezogen, sondern betreute ein Gefangenenlager in der Stadt und kam abends wie gewohnt zum Essen nach Hause. Hinnerk Lünschen war stolz auf sich. Nichts war ihm geschenkt worden, nichts in die Wiege gelegt. Kraft seines Willens, seines hellen Kopfes und seiner Selbstbeherrschung hatte er es zu etwas gebracht. Er war sportlich, er mochte sich in der Uniform gut leiden, schneidig sah er darin aus. Und er fand, die meisten Ideen der Nazis waren genau für Männer wie ihn gemacht. Nur das mit den Untermenschen brauchte er nicht. Übermensch zu sein reichte ihm völlig. Er verachtete Menschen, die andere kleinmachen mussten, damit sie groß sein konnten. Das hatte er, Doktor Hinnerk Lünschen, Notar, nicht nötig. Natürlich besorgte er seinem alten Mitschüler Johannes Weill die nötigen Papiere, damit er zu seinen Verwandten nach England ausreisen konnte. Das war doch Ehrensache. Er hatte nie darüber gesprochen, aber Johannes Weill hatte uns einen Brief geschrieben, als ihm über UmwegeHinnerks Todesanzeige nach Birmingham geschickt worden war. Das war ein halbes Jahr nach Großvaters Tod. Inga fotokopierte ihn und schickte ihn ihrer Schwester Christa. Der Brief war höflich und distanziert, freundschaftliche Gefühle hatte dieser Mann nicht für meinen Großvater übrig. Ich möchte nicht wissen, wie gönnerhaft Hinnerk sich ihm damals gegenüber verhalten hatte. Ich weiß auch nicht, ob mein Großvater ein Antisemit war, es gab jedenfalls kaum jemanden, mit dem er sich nicht irgendwann überworfen hätte. Aber der Brief sagte ganz klar, dass Hinnerk seinem Schulfreund geholfen hatte. Das war eine große Erleichterung für die ganze Familie.
    Natürlich zerstritt er sich auch mit den Nazis, er verachtete die Dummen, und viele der Nazis waren viel dümmer als er. Dumm fand er auch, einen Krieg, in dem man offensichtlich keine Chance mehr hatte, weiterzuführen. Und das sagte er auch eines Abends, als er noch bei Tietjens für ein Bier eingekehrt war. In der Gastwirtschaft saß eine stille Frau. Wir haben nie herausgefunden, wer sie war. War sie die Frau eines Mannes, den Hinnerk verklagt oder verurteilt hatte? Hatte Hinnerk sie einst gedemütigt? Er war klug genug, um schnell die Schwächen der Leute zu erkennen, und geistreich genug, um sie scharfzüngig zu beschreiben, aber er war nicht weise genug, um der Versuchung zu widerstehen, dies auch zu tun. Frau Koop hatte einmal gesagt, Hinnerk habe eine Geliebte in der Stadt gehabt, eine dunkelhaarige schöne Frau. Sie selbst habe ein Foto von ihr gesehen, und zwar in Hinnerks Schreibtisch. Rosmarie und ich waren erstaunter darüber, dass Frau Koop einen Blick in Hinnerks Schreibtisch geworfen hatte, als über das Foto der geheimnisvollen dunkelhaarigen Frau. Inga behauptete, sie kennedas Foto. Es sei ein Abzug jener Fotografie gewesen, die von Berthas Schwester Anna gemacht worden sei. Jedenfalls sagte Hinnerk, er habe die stille Frau bei Tietjens nicht gekannt. Doch sie musste ihn gekannt oder sich zumindest nach ihm erkundigt haben. Denn sie denunzierte ihn. So wurde der Kreisrichter Dr. Hinnerk Lünschen zum Schrecken der ganzen Familie noch kurz vor Kriegsende mit fast vierzig Jahren Soldat. Hinnerk hasste Gewalt. Er hatte seinen gewalttätigen Vater gehasst und verachtet, und jetzt sollte er losgehen und Menschen erschießen und noch schlimmer, selber erschossen werden. Er schlief nicht mehr, saß nächtelang am offenen Fenster im Arbeitszimmer und blickte in die Dunkelheit. Die Linden auf dem Hof waren damals schon hoch. Es war Herbst, die Einfahrt war gepflastert mit den gelben, herzförmigen Blättern. Am Tag vor der Abreise trat Hinnerk aus der NSDAP aus. Und er bekam eine Lungenentzündung.

    Im Zug hatte er hohes Fieber und war sehr schwach. Nach Russland konnte er in diesem Zustand nicht verfrachtet werden, also blieb er in einem Lazarett. Er bekam zwar kein Penizillin, wurde aber gesund. Daraufhin schickte man ihn im Januar 1945 an die Front nach Dänemark. Dort kam er in ein Gefangenenlager, nach Kriegsende in ein Internierungslager nach Süddeutschland. Das wusste ich von Christa, die Berthas Briefe an Hinnerk abgetippt und meinem Vater und mir vorgelesen hatte. Bertha schrieb von dem Schwein, das sie gekauft und bei Hinnerks Schwester Emma auf dem Hof untergebracht hatte. Und ausgerechnet ihr Schwein, ausgerechnet ihres von all den vielen Schweinen, die ihre Schwägerin hatte, war gestorben. So ein dummerZufall.

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