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Der Geschmack von Apfelkernen

Der Geschmack von Apfelkernen

Titel: Der Geschmack von Apfelkernen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hagena
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halbe Dorf verbrannte.
    Ich knipste die Nachttischlampe aus und starrte in die Schwärze des Zimmers. Nachdem sich meine Augen daran gewöhnt hatten, erkannten sie Schatten und Umrisse. In Hinnerks grauem Buch war kein einziges Gedicht über den Krieg. Und auch keines, das darauf schließen ließ, dass die Verse in einem Lager geschrieben worden waren. In einem Lager, das eigens dazu diente, den Insassen ihre eigenen und andere grauenvolle Taten dervergangenen Jahre ins Gedächtnis zu rufen. Ich dachte an die Gedichte, die von Hinnerks Dorf handelten und getränkt waren von Liebe zu den Orten seiner Kindheit. Seine Kindheit, die er so gehasst hatte.
    Und ich stellte fest, dass nicht nur das Vergessen eine Form des Erinnerns war, sondern auch das Erinnern eine Form des Vergessens.

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    IX. Kapitel
    Natürlich dachte ich an Max. Ich dachte darüber nach, ob er sich so zurückhielt, weil ich mich so zurückhielt, und ob ich mich zurückhielt, weil er sich so zurückhielt oder weil ich mich zurückhalten wollte aus Gründen, über die ich nachdenken musste.
    Am nächsten Morgen, es musste Dienstag sein, lief ich mit bloßen Füßen zum großen Schrank und klappte die Türen auf. Es roch nach Wolle, Holz, Kampfer und noch ein klein wenig nach dem Haarwasser meines Großvaters. Nach kurzem Überlegen zog ich ein weißes Kleid mit hellgrauen Pünktchen hervor. Es war einmal Ingas Ballkleid gewesen, dünn und leicht, denn die Hitzewelle schien anzuhalten. Mit einem Tee setzte ich mich auf die Treppenstufen vor der Haustür, es duftete jetzt wieder zuversichtlich nach Sommer. Die drei leeren Farbeimer am Fuße der Treppe sah ich erst, als ich gerade zurück ins Haus gehen wollte. Ich lief am Haus entlang zum Wäldchen. Und tatsächlich: Alle vier Wände des Hühnerhocks waren weiß gestrichen. Das hatte ich befürchtet. Es sah wunderhübsch aus, wie ein kleines Sommerhaus. Wie lange hatte Max hier gestern noch gemalt? Beim Drumherumlaufen sah ich noch das Wort »Nazi« unter dem weißen Anstrich schimmern. Die vielen »Iris« waren nicht mehr zu erkennen. Ich ging in das kleine Haus hinein, konnte aber nur geduckt darin stehen.
    Wenn der Regen uns draußen überraschte, krochen Rosmarie, Mira und ich hier hinein. Aber ich war auch öfters allein dort. Vor allem später, wenn ich in denFerien auf Besuch war. Im September hatte Rosmarie manchmal schon wieder Schule, ich aber noch nicht. Dann hatte ich den Vormittag für mich. Ich sammelte Steine, die hier ganz anders aussahen als zu Hause. Bei uns gab es vor allem runde, glatte Kiesel, aber hier lagen Steine, die wie Glas aussahen und auch fast wie Glas zerbrachen. Warf man sie auf einen harten Boden, sprangen Stücke ab, scharf wie richtige Klingen. »Feuersteine« nannte Mira sie. Meist waren sie hellbraun, graubraun oder schwarz, selten weiß.
    Rheinkiesel, die es bei uns zu Hause gab, zersprangen nicht. Eine Zeit lang brach ich viele Steine auf, weil ich hoffte, Kristalle darin zu finden. Ich hatte einen guten Blick für diese Steine, je rauer und unscheinbarer sie von außen waren, desto funkelnder von innen. Meistens fand ich sie auf den alten Bahnschienen im Wald in der Nähe unseres Hauses. Es war ihre Form, die mir sagte, dass sie etwas enthielten. Da war etwas in ihrer Rundung, das weniger willkürlich schien als bei gewöhnlichen Steinen. Manchmal drangen die Kristalle auch bis zur äußersten Schicht durch, wie Glasfenster, durch die man hineinsehen konnte. Mein Vater schenkte mir eine Steinsäge, und so saß ich stundenlang in unserem Keller und sägte Steine auf. Die Säge machte ein scheußliches Geräusch, das mir in den Ohren wehtat. Begierig schaute ich mir die glitzernden Höhlen an. Einerseits fühlte ich Triumph und Stolz, wenn ich recht gehabt hatte mit meiner Vermutung, andererseits wusste ich, ich tat etwas Verbotenes, brach in etwas ein, zerstörte Geheimnisse. Und doch fühlte ich Erleichterung darüber, dass die braunen Steine nicht nur Steine waren, sondern Kristallhöhlen für Feen und kleine Zauberwesen.

    Später verlegte ich mich auf das Sammeln von Wörtern und die kristallinen Welten der hermetischen Lyrik. Doch hinter allem Sammeln steckte die gleiche Gier nach singenden Zauberwelten in schlafenden Dingen. Ich hatte als Kind ein Vokabelheft, in dem hob ich besondere Wörter auf, so wie ich auch Muscheln und besondere Steine aufhob. Es gab die Kategorien »schöne Wörter«, »hässliche Wörter«, »falsche Wörter«, »verdrehte

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