Der Geschmack von Apfelkernen
oft noch ein paar Sätze mit Inga wechseln konnte, die dann gerade aus Bremen eingetroffen war. Diese Sätze waren ihm wichtig. Er hatte sich in Inga verliebt. Aber nicht einfach nur verliebt; er wollte sie heiraten, Kinder mit ihr haben und für immer ihr Mann sein. Er hatte Inga einen Brief geschrieben, in dem all das stand.
Das wussten wir von Rosmarie, die den Brief heimlich gelesen hatte. Wie sie an ihn gekommen war, verriet sie uns nicht. Inga weigerte sich, über ihre Gefühle nachzudenken. Sie fand sich zu alt oder ihn zu jung, je nachdem, wie sie sich gerade fühlte. Rosmarie fing an, am Wochenende an der Tankstelle herumzuhängen. Sie unterhielten sich. Peter tat das gern. Er fühlte sich, wenn er mit Ingas Nichte sprach, seiner Liebe ein wenig näher. Rosmarie wurde immer besser in Mathematik. Wenn Peter ihr etwas erklärte, schaute sie ihn an, ohne auch nur zu blinzeln, was ihn glauben ließ, sie höre ihm gar nicht zu. Doch dann überraschte sie ihn mit klaren Antworten. Bei Mira war es genau umgekehrt, sie schien sehr konzentriert, schaute in ihr Heft oder runzelte die Stirn, aber sie bekam überhaupt nicht mit, wovon gerade die Rede war. Ihre Mathematiknoten wurden schlecht, was sie vor der Nachhilfe gar nicht gewesen waren. Doch sie bestand darauf weiterzumachen.
Rosmarie wollte Peter. Sie wollte ihn haben. Sie sagte ihm, sie sei in ihn verliebt. Sagte es ihm mitten insGesicht, während der Nachhilfe und vor Mira. Peter schaute sie entgeistert an. Rosmarie war ein schönes Mädchen, groß und schlank mit langem rotem Haar. Ihre Augen standen weit auseinander. Sie hatten die Farbe von Gletschereis und unterschieden sich kaum von dem bläulichen Weiß ihrer Augäpfel, nur ihre Pupillen hoben sich stark ab. Wenn ich mich über sie ärgerte, fand ich, sie ähnele einem Reptil. Wenn wir uns gut verstanden, erinnerte sie mich an ein silbriges Feenwesen. Doch so oder so fanden Mira und ich sie atemberaubend.
Peter war verwirrt. Die Stunde endete früher als sonst. Inga war noch nicht angekommen. Weil er sie aber gerade heute nicht verpassen wollte, beschloss er, noch etwas auf dem Grundstück zu warten. Er ging nicht zu seinem Auto, sondern schlenderte hinters Haus auf die Obstbaumwiese. Es war im Mai, die Blüten waren abgefallen und die Äpfel noch nicht sichtbar. Peters Herz klopfte, als er Rosmarie von weitem auf sich zukommen sah.
Ich hatte keine Ferien, und deshalb wusste ich nur, dass Inga später weinend bei uns angerufen hatte und meine Mutter sprechen wollte. Vom Hof aus habe sie gesehen, schluchzte Inga in den Hörer, wie Rosmarie und Peter sich geküsst hätten. Sie hatte daraufhin auf dem Absatz kehrtgemacht und war zurück nach Bremen gefahren. Wir wussten nicht, ob Rosmarie wusste, dass Inga gekommen war und sie beobachtete, aber wir nahmen an, dass sie das genau wusste. Rosmarie musste Ingas Auto gehört haben, als es hinter ihr in die Einfahrt fuhr und unter den beiden Linden auf dem Hof zum Stehen kam. Ein VW Käfer hatte keinen leisen Motor. Ich wusste auch nicht, ob Rosmarie in diesem Augenblick wusste, dass auch MiraZeugin des Kusses gewesen war. Irgendwann musste sie es jedenfalls erfahren haben, denn ich wusste es von meiner Mutter und die von ihrer Schwester Harriet, und die hatte Mira dabei zugesehen, wie Mira den Kuss beobachtete: Mira war bei Harriet in der Küche gewesen, um Limonade zu holen, hatte die beiden Gläser genommen und war nach hinten durch die Diele gegangen. Als sie die Tür zur Obstbaumwiese geöffnet hatte und einen Schritt hinausgetreten war, ging Rosmarie nur wenige Schritte entfernt an ihr vorbei, den Blick auf Peter gerichtet. Aus den Augenwinkeln musste sie Mira gesehen haben, nahm aber keine Notiz von ihr. Miras Stirn glänzte weiß unter ihrem schwarzen Pony, als Harriet sie von der Küche aus betrachtete und sich über ihre Blässe wunderte. Wie eine Schlafwandlerin sei Rosmarie an ihr vorbeigeschritten, flüsterte Mira mehr zu sich selbst als zu Harriet, als sie wieder in der Küche war. Und sie, Mira, habe sich nicht getraut, sie zu rufen. Und gerade als sie doch rufen wollte, da habe sie sich auch schon an diesen grauhaarigen Tankwart geklammert. Mira hatte Schweißperlen über der Oberlippe, ihre Augen schienen größer als sonst. So erzählte es Harriet ihrer Schwester Christa, die nach Ingas Anruf mit Harriet telefonierte. Zumindest einen Teil davon, den Rest habe ich nach und nach einfach mitgekriegt.
Wenn Rosmarie wusste, dass Inga zuschaute,
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