Der Geschmack von Apfelkernen
darunter befindet sich nämlich ein von mir mit der Sense gerupftes Stück Ackerland. Aber ich habe heute schon köstlich darauf geschlafen.
- Ach. Du hast also hier herumgelegen und deinen sündigen Körper darauf geräkelt.
- Für einen, der beim Anblick meines sündigen Körpers sofort panisch in ein schwarzes Gewässer rennt, bist du ziemlich keck.
- Touché. Iris, ich –
- Schweig und schenk den Wein ein.
- Jawohl, Madame.
Wir tranken erst ein paar Schlucke im Stehen und ließen uns dann unter dem Apfelbaum nieder.
- Ein bisschen frugal ist das hier schon, aber du bist ja nicht zum Essen hier.
Max warf mir einen langen Blick zu.
- Nein? Bin ich nicht?
- Hör schon auf. Ich muss mit dir reden.
- Gut. Ich höre.
- Über das Haus. Was geschieht, wenn ich mein Erbe nicht annehme?
- Darüber reden wir besser in meinem Büro.
- Aber was würde theoretisch geschehen?
- Deine Mutter und dein Vater würden es bekommen. Und du dann irgendwann einmal wieder. Möchtest du das Haus nicht? Ich fand Berthas Entscheidung, es dir zu vermachen, geradezu einen Geniestreich.
- Ich liebe das Haus, aber es ist ein schweres Erbe.
- Ich kann mir vorstellen, was du meinst.
- Weiß deine Schwester, dass ich hier bin?
- Ja. Ich habe mit ihr telefoniert.
- Was sagt sie?
- Nicht viel. Sie wollte wissen, ob wir über Rosmarie gesprochen haben.
- Nein, haben wir nicht.
- Nein.
- Möchtest du über sie reden?
- Ich habe alles nur am Rande mitbekommen, ich warjünger als ihr und dann noch ein Junge. Und du weißt ja vielleicht noch, wie es damals bei uns war. Ich meine, mit meiner Mutter. Nach Rosmaries Tod war Mira nicht mehr die Gleiche. Sie sprach mit niemandem mehr, nicht einmal mit meinen Eltern, vor allem nicht mit meinen Eltern.
- Und mit dir?
- Mit mir schon. Jedenfalls manchmal.
- Bist du deshalb hiergeblieben? Als Sprachrohr zwischen deinen Eltern und deiner Schwester?
- Quatsch.
- Ich habe ja nur gefragt.
- Stell dir vor, Iris, du hast nicht das Monopol auf die Liebe zum Moorsee und den Birkenwäldern, zur Schleuse und zu den Wolken über verregneten Kuhweiden. Ja, stell dir das mal vor.
- Du bist ja romantisch.
- Du mich auch. Jedenfalls, was ich sagen wollte. Also wegen Mira. Nach dem Tod deiner Kusine flippte sie nicht aus, nahm keine Drogen und ging auch nicht vor die Hunde. Sie saß den ganzen Tag in ihrem Zimmer und lernte für die Abschlussprüfungen. Sie machte das beste Mathematikabitur der Schule, hatte einen Null-Komma-irgendwas-Durchschnitt und studierte Jura in Rekordzeit. Sie ist promoviert.
- Worüber? Paragraph 218?
Das war mir rausgerutscht. Max’ Augen wurden schmal. Er musterte mich scharf.
- Nein. Baurecht.
Es gab eine unangenehme Pause. Max fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Dann sagte er ein bisschen zu beiläufig:
- Ich habe hier einen kurzen Artikel über sie. Mehreine Notiz darüber, dass sie jetzt Partnerin in dieser Berliner Kanzlei ist. Er war vor ein paar Wochen in einer juristischen Zeitschrift. Willst du mal sehen?
Ich nickte.
Umständlich zog Max zwei ausgerissene und doppelt zusammengefaltete Seiten aus seiner hinteren Hosentasche. Er hatte also vorgehabt, über seine Schwester zu reden. Ob er noch weitere Pläne hatte für diesen Abend?
- Es …, also, es ist auch ein Foto drin.
- Ein Foto von Mira? Zeig her!
Ich griff nach den Seiten. Und dann sah ich das Bild.
Alles begann sich langsam zu drehen. Das Gesicht auf der Seite kam näher, und dann entfernte es sich wieder. Ich fing an zu schwitzen. In meinen Ohren hämmerte es, ein hässliches, metallenes Wummern. Jetzt bloß nicht in Ohnmacht fallen, mit dem Fallen war Schluss. Ich riss mich zusammen.
Das Gesicht auf der Seite. Miras Gesicht. Ich hatte einen mondänen Haarschnitt erwartet, schwarz und glänzend wie ein Helm, ein schickes Kostüm, wenn schon nicht schwarz, dann vielleicht grau oder von mir aus ein exzentrisches Dunkelviolett. Sexy und sophisticated und immer noch die Stummfilmdiva.
Aber was ich in den Händen hielt, war das Bild einer schönen Frau mit langem kupferrotem Haar und kupferroten Augenbrauen, die ein vanillegelbes Satinkleid trug, das fast wie Gold schimmerte. Ihre Augen sahen ohne den dicken Lidstrich ganz anders aus. Die Wimpern waren dunkel getuscht. Mit einem trägen Lächeln auf den dunkelrot geschminkten Lippen schaute sie mich an.
Ich ließ das Bild sinken und guckte Max feindselig an.
- Was … was ist das? Ist sie krank, oder hat sie nur einen kranken Sinn
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