ihn im schwachen Licht und versuchte herauszufinden, ob er es ehrlich meinte oder bloß echt gut schauspielern konnte. Sie sah eine dünne, halbmondförmige Narbe knapp über seiner linken Augenbraue, und plötzlich erinnerte sie sich daran, dass er ihr davon erzählt hatte: Da war er vom Dach eines Autos gesprungen. Damals hatte sie sich einen blonden Jungen aus einer begrünten Vorstadtstraße vorgestellt und später dann eine ältere Version desselben kernigen Jungen, etwas zurückhaltender jetzt, vielleicht sogar ein bisschen wie ein Nerd, aber noch mit einem Anflug des früheren jungenhaften Lächelns, wenn er sich vor den Computer setzte und ihre Mails öffnete.
Jetzt schloss sie die Augen und versuchte das Bild zu bearbeiten, Graham Larkin an die Stelle des Jungen zu setzen, wie er über die Haferkekse seiner Mutter schrieb, über seine Begeisterung für Wii-Tennis und die völlige Unfähigkeit, seine Socken abends in den Wäschekorb zu werfen.
Er war es die ganze Zeit gewesen.
Die ganze Zeit, wurde ihr plötzlich klar, hatte er auch an sie geschrieben.
Sie öffnete die Augen, und der Türknauf glitt ihr aus der Hand. Die Fliegengittertür klapperte, und Bagel sprang mit barschem Bellen auf. Ellie wandte sich um, wollte ihn beruhigen, aber es war zu spät. Durchs Gitter sah sie die nackten Füße ihrer Mutter auf der Treppe, Sekunden später stand sie schon in Elch-Boxershorts und einem I- ♥ -Maine- T-Shirt an der Tür. Bagel sprang um sie herum, sein Schwanz peitschte durch die Luft. Ellie sah sie durchs Gitter an und hielt die Tür zu.
»Er muss raus, Ellie«, sagte Mom.
»Nur einen Augenblick, okay?«, bat Ellie und warf ihrer Mutter einen vielsagenden Blick zu, der aber anscheinend durchs Fliegengitter nicht wirkte.
»Was ist denn los?«, fragte Mom und drückte gegen die Tür. Die ging zwar nur ein Stückchen auf, aber Bagel schoss dennoch hinaus und raste auf Graham zu. Seufzend gab Ellie auf, und auch Mom trat nach draußen, die Augen vor Überraschung geweitet.
Graham bückte sich, um den Hund zu begrüßen – der sich schon auf dem Rücken wälzte, bloß weil er jemand Neuen kennenlernte –, doch nun stand er wieder auf und streckte die Hand aus.
»Ich bin Graham Larkin, Mrs O’Neill«, sagte er. »Entschuldigen Sie, dass ich so spät noch störe.«
Ellie erwartete, dass ihre Mutter einen Scherz darüber machte, dass neun Uhr in Henley so gut wie Mitternacht sei oder dass Bagel zu jeder Zeit gern Gäste empfange, doch stattdessen ließ sie den Blick über den Vorgarten schweifen, suchte die Dunkelheit nach anderen Menschen ab, und Ellie trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen.
»Er ist bloß mal vorbeigekommen …«, begann sie, wusste aber nicht, wie sie den Satz zu Ende bringen sollte.
»Ich bin bloß mal vorbeigekommen, um mich vorzustellen«, sagte Graham und sah auf einmal sehr jungenhaft aus, nicht mehr wie ein Filmstar, sondern wie ein ganz normaler Jugendlicher, der zu spät noch draußen unterwegs ist. »Aber jetzt sollte ich wohl wieder gehen.«
Mom zwang sich zu einem Lächeln: ein Automatismus von ihrer Arbeit, trotz ihres Misstrauens. »War nett, Sie kennenzulernen«, sagte sie. »Willkommen in Henley.«
»Vielen Dank«, sagte er und nickte in Richtung ihres T-Shirts. »Das, was ich bisher von Maine gesehen habe, gefällt mir auch.« Sein Blick wanderte über die Veranda zu Ellie. »Ich bin echt froh, dass mir jemand von Henley erzählt hat.«
Dann winkte er kurz, drehte sich um, ging die Verandastufen hinunter und verschwand im Dunkel des Vorgartens. Bagel warf den Kopf zurück und ließ ein scharfes, lautes Bellen hören, das viel zu lang durch die Nachbarschaft hallte. Mom starrte Ellie an und wartete auf irgendeine Erklärung, aber ihr fiel nichts ein, was sie sagen könnte. Sie konnte nur eins denken: Sie war es, die ihn hierhergebracht hatte.
Und auf einmal war auch sie echt froh.
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Von:
[email protected]Gesendet: Sonntag, 9. Juni 2013 21:28
An:
[email protected]Betreff: Re: Meine Vorstellung von Glück
Neue Menschen kennenzulernen.
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Von:
[email protected]Gesendet: Samstag, 8. Juni 2013 21:43
An:
[email protected]Betreff: Re: Meine Vorstellung von Glück
Hast du schon gesagt.
sechs
Graham hörte nur halb hin, als sein Manager in seinem Wohnwagen im Kreis herumstolzierte wie ein verrückt