Der Geschmack von Glück (German Edition)
gegessener Teller vom Zimmerservice auf dem ungemachten Hotelbett.
Als er gestern Abend den Fernseher angeschaltet hatte, lief zu seiner Überraschung Wer die Nachtigall stört . Den hatte er zuletzt als Kind gesehen, zusammen mit seinen Eltern aufs Sofa gekuschelt, mit einer Schüssel Popcorn für alle – und jetzt war er sofort wieder gefesselt, verzaubert von der klassischen Geschichte. Sollten seine Altersgenossen mit ihren Tanzfilmen, zotigen Komödien und Actionstreifen glücklich werden – Graham wurde klar, er wollte so etwas machen. Etwas Wichtiges.
Auf dem Weg zum Set heute Morgen hatte Olivia sich zu ihm gesellt. Graham wusste, dass sie ihre nächsten beiden Filme schon klargemacht hatte: einen Disneyfilm über eine moderne Prinzessin und eine Komödie über zwei Mädchen am College. Zwar konnte er ihre Auswahl nicht nachvollziehen, aber irgendwie beneidete er sie doch. Sie wusste genau, was sie wollte und wo sie hinwollte. Das konnte er von sich nicht sagen.
»Was machst du denn am Vierten?« Sie rückte ihre Sonnenbrille zurecht, als sie auf einige Kamerawagen zugingen, die ihnen später die Straße entlang folgen sollten.
Das gesamte Team, Schauspieler und Crew, hatte gemeutert, als Mick vorschlug, man solle den Feiertag durcharbeiten. Sie brauchten nur noch drei Drehtage – für Graham sogar weniger, bei ihm war nach dem Vormittag des zweiten Tages schon Schluss –, und der Regisseur hatte die Sache schnell durchziehen und zurück nach L.A. ins Studio gehen wollen. Doch nachdem sie fast einen gesamten Monat durchgearbeitet hatten, brauchten alle unbedingt eine Pause, weshalb er schließlich nachgab: Sie bekamen den Feiertag frei und würden erst danach fertig drehen. Und jetzt schmiedeten anscheinend alle Pläne. Graham hatte gehört, dass ein paar Jungs aus dem Team ein Boot chartern und draußen auf dem Wasser feiern wollten, andere wollten zum Stadtfest gehen.
»Ich hab mir gedacht, ich könnte für den Tag nach Manhattan fliegen«, sagte Olivia, ohne seine Antwort abzuwarten. »Ich vergesse schon langsam, wie es sich in der Zivilisation anfühlt.«
»Das wird bestimmt lustig«, sagte er, und sie sah ihn von der Seite an.
»Willst du mitkommen?«
Er schaute sie fragend an. »Nach New York?«
»Nach Manhattan «, sagte sie, als wäre das etwas ganz anderes. »Du musst doch zugeben, es wäre ganz nett, hier mal rauszukommen.«
Es überraschte ihn, dass ihm das Angebot tatsächlich nicht ganz ohne Reiz schien, vor allem nach so vielen Tagen allein, und er fragte sich, ob sie es wohl ernst gemeint hatte. Er suchte in ihrer Miene nach Hinweisen, ob sie tatsächlich hoffte, er könne sie begleiten. War es möglich, dass sie ihn wirklich mochte, dass es nicht nur um Publicity ging?
Doch bevor er antworten konnte, lächelte Olivia. »Es ist natürlich nicht L.A., aber ich bin sicher, ganz unbemerkt würden wir auch da nicht bleiben.« Sie waren fast bei ihrem Wohnwagen angelangt. »Du hast doch noch nichts vor, oder?«
Graham fiel wieder ein, wie er sich das Wochenende vorgestellt hatte: eine Parade, Feuerwerk, Wunderkerzen und Orchester, ein Kleinstadtfest und Zeit mit seinen Eltern. Er hatte nicht auf die Absagemail seiner Mutter geantwortet und nichts weiter von ihnen gehört, bis sie ihn letzte Woche angerufen hatte. Zehn Minuten lang hatten sie über das Wetter in Kalifornien geredet und über die Bücher, die sie gerade las. Als sie sich nach dem Film erkundigte, kam Graham schnell auf etwas anderes zu sprechen, wie immer, wenn seine Eltern danach fragten, weil ihm klar war, sie taten es nur aus Höflichkeit. Doch als sie die Grillparty der Nachbarn am vierten Juli erwähnte, verstummte Graham ganz.
»Schätzchen?« Die Stimme seiner Mutter klang dünn aus dem Hörer.
»Klingt doch nett«, sagte er knapp, und sie seufzte.
»Entschuldige, dass wir nicht kommen«, sagte sie nach kurzer Stille. »Du weißt, wie ungern dein Vater reist, und –«
»Ist schon in Ordnung, Mom.«
»Was wirst du denn unternehmen?«
»Ach, inzwischen hat sich sowieso ergeben, dass ich arbeiten muss«, log er. Er wusste, er würde wahrscheinlich das Gleiche tun wie an allen anderen Tagen hier: lange durch den Ort spazieren, im Hafen nach Fischerbooten Ausschau halten, Filme anschauen, zeichnen, sich bei Evan nach Wilbur erkundigen, was er allerdings schon so oft getan hatte, dass er nur noch sehr ironische Auskünfte bekam (»Schwein auf freiem Fuß« oder »Das Schwein hat gerade das Gebäude
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