Der Geschmack von Sommerregen (German Edition)
es wäre normal für dein Alter, deine Freundschaft mit Noah ist ja schon recht lange her, ich meine … Ich in deinem Alter hatte eigentlich immer eine … äh … Du solltest halt nur aufpassen, dass nichts passiert, aber ich schätze, du bist informiert über das alles, in deinem Alter, mit sechzehn ist man ja schon fast erwachsen, und in Zeiten des Internets …«
Mein Vater merkt, dass er sich gründlich verrannt hat, und bricht ab. Peinlich ist ihm das Thema wohl auch. Seufzend streicht er sich mit der linken Hand über seine Glatze, während die rechte den BMW auf den Parkplatz der Schule steuert.
Ich beiße mir auf die Unterlippe, frage mich, ob ich ihm zu Hilfe kommen soll. Er möchte mich so offensichtlich vor jeder Gefahr beschützen, will so sehr an meinem Leben teilhaben und das kindliche Vertrauen aufrechterhalten, das ich ihm seiner Meinung nach immer entgegengebracht habe, dass er mir fast leidtut.
Dann aber fällt mir ein, woraus dieses Vertrauen tatsächlich besteht: aus frommen Lügen. Und mein Mitleid verfliegt.
Solange ich denken kann, habe ich meinen Eltern nach dem Mund geredet, habe ihnen gesagt, was sie hören wollten, und alles war gut. Doch wenn der Druck zu stark wurde und ich von dem angefangen habe, was mich wirklich beschäftigt – die Farben, meine Unsicherheit, mein falsches Leben, in dem keiner ahnt, wer und wie ich wirklich bin –, dann haben meine Eltern abgeblockt. Immer. Haben mich an Oma Anne erinnert und an die Psychiatrie. Haben mir Angst gemacht, um mich vor mir selbst zu beschützen.
Ahnt mein Vater eigentlich, wie einsam ich mich manchmal fühle? Einsamkeit ist silbergrau, eine schöne, glitzernde Farbe im Außen. Auf meinem inneren Monitor ist sie so kalt wie tödliches Eis.
Und deshalb schweige ich jetzt, lasse ihn zappeln und fühle sogar ein winziges bisschen grimmig-karmesinrote Befriedigung dabei.
Sofort gefolgt von einer Spur reumütigen Violetts: Schließlich will mein Vater mir nur helfen, wenn auch auf reichlich ungeschickte Weise. Er will mich vor Liebeskummer, HIV und einer Teenie-Schwangerschaft bewahren, und weil meiner Mutter solche Themen zu konfliktträchtig sind – was, wenn ich darauf bestehen würde, die Pille zu nehmen, statt ein Kondom zu benutzen? –, ist es eben wieder mal er, der ins kalte Wasser springen muss.
Milder gestimmt, öffne ich die Autotür und steige aus. »Danke fürs Herbringen, Papa. Und mach dir keine Sorgen. Ich habe keinen Freund. Ich hatte nur einfach keinen Bock mehr, wie zwölf auszusehen.«
Was immerhin fast der Wahrheit entspricht. Verliebt zu sein ist schließlich nicht das Gleiche wie tatsächlich einen Freund zu haben, oder?
Papa lächelt erleichtert. »Klar, ist ja auch nichts dabei, wenn du dich ein bisschen herrichtest. Bist ja schon beinah eine junge Frau. Wobei: Nötig wäre der ganze Aufwand nicht gewesen, du hast davor auch sehr nett ausgesehen.« Er zwinkert mir zu.
Ich lächele schief zurück. Nett aussehen ist für ein Mädchen in meinem Alter ungefähr so erstrebenswert wie tüchtig und patent zu sein. Aber es hat wohl keinen Zweck, das einem Mann wie meinem Vater zu erklären.
Als er vom Parkplatz fährt, schaue ich ihm einen Augenblick lang nach, und plötzlich beneide ich ihn. Er kann jetzt nach München abhauen, während ich mich in den Mikrokosmos meiner Klasse begeben muss. Wo alle mich anstarren, Vivian über mein Make-up lästern, Lena in meinem Namen Streit anfangen und Mattis mich konsequent anschweigen wird.
Warum, verdammt, spiele ich eigentlich nicht einfach weiter das Mauerblümchen? Ganz gemütlich, ohne Aufregung – und ohne mich gedrängt zu fühlen, mich vor ihnen allen zu rechtfertigen?
Mattis’ Lächeln kommt mir in den Sinn, seine nachdenklichen, leicht schräg stehenden Augen, die Andeutung seiner Muskeln unter dem coolen Shirt, und die blaugoldenen Wellen werden zu Brechern, überfluten meinen inneren Monitor mit einer solchen Macht, dass ich es mir sparen kann, die Antwort auf meine Frage mit dem Verstand auszuformulieren.
Denn ich weiß genau, warum ich kein Mauerblümchen mehr sein will.
Ich hebe das Kinn, straffe die Schultern und setze mich in Gang. Auf in den Kampf.
Sieben
Und dann passiert das Blödeste, was überhaupt passieren kann: Mattis ist nicht da!
»Krank«, höre ich Klara vor mir tuscheln, und Jasmin zischt zurück: »Wer’s glaubt. Die Bendings sind bestimmt schon im Urlaub, sicher auf den Malediven oder so.«
Bleigraue Enttäuschung breitet sich
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