Der Geschmack von Sommerregen (German Edition)
Johannes sich ungefähr so sehr gefreut haben wie auf eine Wurzelbehandlung beim Zahnarzt), und ich verbringe den Tag in ungewohnter Einsamkeit daheim.
Mattis fehlt mir.
Weil ich ihn nicht anschauen, anfassen, küssen kann, beschäftige ich mich wenigstens mit seinem Abbild: Ich bearbeite die Fotos vom Bogenschießen. Oder habe es zumindest vor, als gegen elf mein Smartphone klingelt. Es ist Lena, und sie will mich so-fort! im Tannenversteck treffen.
Die Stimme meiner Freundin zu hören, nachdem ich zwei Wochen lang nichts als Mattis im Kopf hatte, beschert mir ein freudiges Zitronengelb, und ich schließe bereitwillig das Fotobearbeitungsprogramm, das ich gerade erst geöffnet habe. Meine Farbexperimente können noch ein bisschen warten. Ich habe Lena verdammt viel zu erzählen, und sie mir, ihrer Aufregung nach zu urteilen, auch.
Mama wirft mir einen kühlen Blick zu, als ich im Garten an ihr vorbeilaufe. Sie kniet trotz des diesigen Wetters im Tomatenbeet und knipst unerwünschte Triebe mit dem Daumennagel ab.
»Wieder auf dem Weg zu den Bendings?«, sagt sie bissig. »Na, wäre ja auch zu viel verlangt, unsere Tochter zum Sonntagsessen mal daheim zu haben.«
Ich fühle blassorangen Widerwillen in mir aufsteigen. Wohin, frage ich mich, ist eigentlich Mamas Harmoniesucht entschwunden?
»Lena ist zurück«, sage ich knapp. »Was dagegen, dass ich sie sehe?«
Die Miene meiner Mutter hellt sich auf. »Ach. Dann triffst du dich gar nicht mit diesem Jungen?«
»Dieser Junge heißt Mattis, und nein, heute hat er keine Zeit. Was hast du eigentlich gegen ihn?«
»Nichts!«, sagt Mama. »Gar nichts. Ich finde es nur nicht gut, dass du wegen Mattis Bending deine Familie und deine Freunde vernachlässigst.«
»Wen vernachlässige ich denn? Es waren doch alle in den Ferien!«, sage ich aufgebracht.
» Wir nicht«, entgegnet Mama spitz. » Wir waren da. Und in deiner Klasse gibt es sehr viele nette Mädels, die waren bestimmt auch nicht alle verreist.«
Automatisch gehe ich in Abwehrstellung. »Mit den vielen netten Mädels bin ich aber nicht befreundet. Also treffe ich sie auch nicht in den Ferien, es sei denn zufällig. Und was euch betrifft – ich bin kein Kleinkind mehr, das am liebsten an Muttis Rockzipfel hängt, weißt du?«
Sowie der Satz raus ist, weiß ich, dass ich ihn mir hätte verkneifen sollen. Mamas Blick bekommt diesen waidwunden Ausdruck, den ich in der letzten Woche zu hassen gelernt habe, und sie wendet sich abrupt ab und macht einem weiteren Tomatenblättchen den Garaus. »Wenn du so gut allein zurechtkommst, liebe Sophie, was willst du dann überhaupt noch hier bei uns?«
Mama hört sich an, als würde sie mich am liebsten rausschmeißen, und für einen Augenblick bin ich sprachlos. Mit offenem Mund und hängenden Schultern starre ich sie an: meine Mutter, meine sanfte, ängstliche Mutter, die jetzt voll auf Konfrontation geht und offensichtlich kurz davorsteht, mir ihre Liebe aufzukündigen.
Nur, weil ich erwachsen werde?!
Meine Stimme klingt genauso verletzt, wie meine Mutter guckt. »Ich hab dir nichts getan, Mama. Ich weiß echt nicht, warum du so zu mir bist.«
Ich warte. Auf eine Erklärung, eine Entschuldigung. Zehn Sekunden, zwanzig, dreißig.
Aber Mama antwortet nicht, und sie schaut mich auch nicht an. Sie knipst nur immer weiter Tomatenblättchen ab. Wenn sie so weitermacht, ist bald nichts mehr von den Jungpflanzen übrig.
»Wie du willst«, sage ich. »Dann gehe ich jetzt zu Lena.«
Trotz meiner Worte zögere ich, bleibe noch einen Moment vor dem Beet stehen. Gebe meiner Mutter eine letzte Chance, mir zu sagen, warum sie so sauer ist.
Und fühle mich schrecklich, als sie nicht den Versuch macht, diese Chance zu ergreifen. Enttäuschtes Bleigrau verdrängt das Orange in mir, und ich drehe mich um und flüchte in den dämmerigen Schutz des Tannenverstecks.
»Ich muss dir was sagen, Sophie.«
Lena hockt mit glänzenden Augen, roten Wangen und deutlich weniger Speck um die Taille auf dem nadeligen Boden. Die Zeit mit Leon am Chiemsee hat ihr offensichtlich gut getan. Erst jetzt, wo ich Lena wiederhabe, merke ich, wie sehr ich sie vermisst habe.
Durch das tannengrüne Dämmerlicht werfe ich ihr einen neugierigen Blick zu. »So, so, du musst mir also was sagen. Ist es das, was ich denke?«
Lena lacht und sieht sehr glücklich dabei aus. »Ich weiß ja nicht, was du denkst.«
Ich grinse, ihre gute Laune ist ansteckend. »Dass du deinen Prinzipien untreu geworden
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