Der Geschmack von Sommerregen (German Edition)
meiner Familie zu rühren, ohne eine Lawine loszutreten. Eine Lawine, von der ich nicht weiß, wen sie unter sich begraben wird.
Unglücklich schaue ich in Lenas abwartende Miene. Ich muss schweigen, leugnen, schauspielern, nicht anders als sonst auch. Warum nur fällt mir das mit einem Mal so schwer?
Lena steht auf und klopft sich die Tannennadeln vom Rock. Kühl sagt sie: »Gut. Dann bis morgen.«
Ich schrecke aus meinen Grübeleien hoch. »Bis morgen? Können wir nicht was zusammen unternehmen? Es ist Sonntag, du hast doch bestimmt nichts –«
»Doch«, unterbricht sie mich. » Jetzt hab ich was vor. Ich rufe Leon an. Denn weißt du, was das Schöne an Leon ist? Der erzählt es mir, wenn ihn etwas bedrückt. Dervertraut mir.«
Ich zucke zusammen, spüre Lenas Worte wie Schläge ins Gesicht. Sehe ihre zusammengepressten Lippen und will etwas sagen, irgendwas, um sie zurückzuhalten. Aber alles, was mir einfällt, ist tabu, und so bleibe ich stumm.
Hilflos schaue ich ihr nach, wie sie sich durch die Tannenzweige drängt und über den Rasen ihres Gartens stapft. Vermasselt, schießt es mir durch den Kopf, ich hab alles vermasselt.
Plötzlich muss ich an meine Mutter im Tomatenbeet denken, an ihre unerklärliche Bitterkeit, bloß weil ich einen Freund habe.
An Mattis, der die falsche Sophie liebt und die richtige vielleicht noch nicht einmal mag.
Erneut an Lena, die ich zwei Wochen lang nicht gesehen habe und mit der ich mich nach gerade mal zehn Minuten heillos zerstritten habe.
Und wie eine graubraune Schlammfontäne wallt die Verzweiflung in mir hoch. Mama, Mattis, Lena: Alles läuft aus dem Ruder, und ich begreife nicht, wieso. Oder doch? Sind es diese verfluchten Geheimnisse, die mein Leben durchziehen wie ein giftiges Pilzgeflecht?
Lena knallt die Terrassentür hinter sich zu. In meinem Inneren beginnen silbergraue Tropfen den Monitor hinabzurinnen, und sie hüllen mich in einen eisigen Regen aus Einsamkeit.
Achtzehn
Am nächsten Tag wage ich es kaum, bei Lena zu klingeln, um sie zur Schule abzuholen. Als ich es doch tue und sie aus dem Haus hüpft, atme ich auf: Lenas Miene ist freundlich, ihre Wut offensichtlich verraucht.
»Hab vielleicht ein bisschen überreagiert gestern«, sagt sie. »Verzeihst du mir, Sophie?«
Ich nicke, muss über ihr Pathos lachen, und mit dem Lachen fällt eine halbe Zentnerlast von mir ab.
Die andere Hälfte der Zentnerlast bleibt allerdings fest auf meinen Schultern liegen. Denn in weniger als einer Viertelstunde ist es so weit: Ich werde im Brennpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit stehen.
Und das wird kein Spaß werden.
Mein Magen zieht sich furchtsam zusammen, als ich daran denke, was mir bevorsteht. Ich meine, ich bin es ja gewöhnt, dass man ab und zu über mich tuschelt. Ich kenne Vivians abfällige Blicke, Börnys hinterlistige und Wallis amüsierte, die jederzeit umschlagen können in scharfen Spott.
Aber bisher habe ich mich immer ganz gut geschlagen. Habe den anderen keine Angriffsfläche geboten, habe mich im Allgemeinen ruhig verhalten und alles verborgen, was sie gegen mich aufbringen könnte. Mit meinem neuen Look vor den Ferien habe ich mich für meine Verhältnisse bereits weit aus dem Fenster gelehnt. Aber diese Provokation war überhaupt nichts im Vergleich zu dem, was ich ihnen heute zumute: Mattis ist vom Markt. Und schuld daran bin – ich.
Ich, das langjährige Mauerblümchen Sophie, habe den Elite-Mädels ihren Superstar weggeschnappt. Mattis’ ferne Münchener Freundin war für Vivian und Co. keine echte Konkurrenz. Sie war ja nie anwesend und konnte ihnen deshalb auch nicht dazwischenfunken.
Ich aber bin hier. Nicht Vivian mit ihren kaum verhüllten Kurven hat das Rennen gemacht, nicht die blondmähnige Bernice, und auch sonst keines der hübschen Mädchen, die sich vor den Ferien so hartnäckig um Mattis geschart haben.
Mich wird er heute vor aller Augen küssen.
Und dafür werden sie mich hassen.
Meine Handflächen werden feucht. Niemand bricht ungestraft aus der Rolle aus, die er im Klassengefüge besitzt, und mir ist klar, dass ich es werde büßen müssen. Nur wie?
Was werden sie sich ausdenken?
Werde ich es mit einem Achselzucken abtun können, oder wird es richtig wehtun?
Darüber habe ich heute Nacht lange gegrübelt, als ich nicht schlafen konnte – wegen Mattis, wegen Mama und Lena. Zu einem Ergebnis gekommen bin ich nicht.
Na, zumindest mit Lena ist ja alles wieder gut, denke ich verzweifelt optimistisch, als wir den
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