Der Geschmack von Sommerregen (German Edition)
und nimmst es dermaßen cool? «
Ich schlucke. Bin versucht, Lena alles zu erzählen.
Doch dann gehorche ich der Gewohnheit, die mir streng befiehlt zu schweigen. Also sage ich nur: »Mann, Lena, was willst du denn hören? Wir sind zusammen, und es ist toll. Das ist alles.«
Es kommt barscher heraus, als ich es beabsichtigt hatte.
Lena starrt mich an. Ihre glückliche, aufgeregte Stimmung ist dahin, und ich habe ein schlechtes Gewissen. Angestrengt schaue ich an ihr vorbei, fixiere die dunkelgrünen Tannennadeln neben ihrem linken Ohr. Mir ist schon klar, was Lena von mir erwartet: dass wir jedes kleinste Detail meiner erstaunlichen Beziehung unter die Lupe nehmen. Und ich würde ihr den Gefallen so gerne tun, aber … es geht nicht. Obwohl ich in der Vergangenheit alles mit Lena geteilt habe, obwohl sie mich besser kennt als jeder andere Mensch auf der Welt, gibt es doch zwei Dinge, die sie nicht von mir weiß: dass ich farbige Gefühle habe und dass im Keller meiner Familie eine Leiche mit Namen »Oma Anne« liegt. Wenn ich diese beiden Geheimnisse bewahren möchte, kann ich nicht mit Lena über Mattis reden – jedenfalls nicht so, wie sie sich das vorstellt.
Okay, ich könnte ihr erzählen, dass Mattis unglaublich gut küsst. Dass sein nackter Oberkörper genauso sexy aussieht, wie man ihn sich unter seinen hippen T-Shirts vorstellt. Dass Mattis zärtlich und verständnisvoll ist und ein As im Bogenschießen und im Schwimmen. Dass er nicht sauer ist, wenn ich ihn im Bett bremse, sondern mir stattdessen eine Liebeserklärung macht.
Aber dann würde Lena noch weniger verstehen, warum ich nicht überschnappe vor Glück, und schon käme ich in Erklärungsnöte.
›Ach, weißt du, Lena, ich bin ein bisschen durchgeknallt, in mir drinnen gibt es so einen Monitor, der mir meine Gefühle als Farben zeigt. Jetzt habe ich entsetzliche Angst, dass Mattis mich nicht mehr will, wenn er das erfährt, denn natürlich habe ich es ihm verschwiegen. Dir verschweige ich es schließlich auch seit Jahren, obwohl du meine beste Freundin bist. By the way, ich hoffe, dieser kleine Vertrauensbruch macht dir nichts aus.‹
Soll ich ihr das sagen?
Lena akzeptiert viel, wenn es um mich geht. Aber mir ist durchaus bewusst, dass jede Freundschaft ihre Grenzen hat. Was mache ich, wenn Lena sich nach meinem Bekenntnis von mir zurückzieht? Weil sie, sagen wir mal, Angst vor mir kriegt? Verrückte machen jedem Angst, denn sie sind unberechenbar.
Scheiße, ich will auf keinen Fall, dass meine beste Freundin – meine einzige Freundin, wenn ich ehrlich bin – mich als so eine sieht! Was, wenn sie mich nicht tröstet, sondern mir lediglich einen Besuch beim Psychiater empfiehlt?
Fast noch schlimmer ist, denke ich trübe, dass Lena sich verraten vorkommen wird. Weil ich ihr nie etwas von meiner Macke erzählt habe. Über sie weiß ich schließlich auch alles, sogar die wirklich peinlichen Sachen: dass sie mal in unseren Musiklehrer verknallt war. Dass sie sich für ihren Busen schämt, weil sie ihn für birnenförmig hält. Dass sie sich nie, nie, nie die Bikinizone rasieren würde. Dass ihre Mutter das ebenfalls nicht tut, sich aber dafür das Schamhaar färbt. (Man stelle sich das mal vor!!! Die rundliche, biedere Christa Landegger mit ihrem allwöchentlichen Schweinebraten und ihrem Posten im Elternbeirat … Na ja, sie arbeitet im Drogeriemarkt, da sitzt sie gewissermaßen an der Quelle für solche Spielereien.) Wie auch immer: Lena ist mir gegenüber vollkommen offen .
Und dieser Freundin soll ich nun gestehen, dass ich jahrelang unehrlich zu ihr war? Dass ich ihr nicht nur einen wesentlichen Teil meines Selbst verschwiegen habe, sondern dass ich diesen Teil von einer Oma geerbt habe, die es gar nicht mehr geben dürfte? Oma Anne ruht in einem niederbayerischen Dorf bei meinem Opa im Grabe. So lautet die offizielle Version, die meine Eltern in Walding verbreitet haben. Dass bloß der Opa tot ist, die Oma hingegen quicklebendig irgendwo als Künstlerin herumstümpert, nachdem sie für ein grässliches Verbrechen die Geschlossene von innen kennengelernt hat, das ahnt niemand. Auch Lena nicht, denn ich habe sie ebenso selbstverständlich belogen wie alle anderen.
Und wenn ich jetzt mit meinen Farbwahrnehmungen rausrücke, um meine Angst zu begründen, Mattis zu verlieren – dann werde ich unweigerlich bei Oma Anne enden.
Der ganze Mist hängt miteinander zusammen, das wird mir immer klarer. Es ist unmöglich, an die Geheimnisse
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