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Der Geschmack von Sommerregen (German Edition)

Der Geschmack von Sommerregen (German Edition)

Titel: Der Geschmack von Sommerregen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Leuze
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Essen. Vielleicht.
    Vielleicht muss ich aber auch eine andere Lösung finden.
    Klar ist nur eines: Aufhören zu suchen, zurückrudern, jetzt, wo ich endlich Mut gefasst habe – das kommt nicht in Frage.
    Ich schaffe es, meiner Mutter ein Lächeln zu schenken. »Kein Problem«, sage ich und zwinge mich zu einem unbeschwerten Tonfall. »Hat auch Zeit bis nach eurem Urlaub.«
    Sie nickt, und ich warte, ob sie noch etwas sagen will, zum Beispiel, dass es ihr schon wieder besser geht. Dass sie nur einen kurzen Moment der Schwäche hatte. Dass sie wieder meine liebevolle, verlässliche Mutter ist, die Mutter aus meiner Kindheit.
    Doch ich warte vergeblich.
    Also stapfe ich zurück in mein Zimmer und weigere mich, meine Ratlosigkeit zur Kenntnis zu nehmen. Ich werde eine Lösung finden, irgendeine! Nicht heute, aber bald. Und wenn ich mein Ziel erreicht habe – wenn ich endlich weiß, wer ich bin –, dann werde ich auch wissen, ob ich mich Mattis zumuten kann.
    Ob ich guten Gewissens seine Freundin bleiben darf.
    Ob ich endlich mit ihm schlafen kann.
    Und ich bete zu wem-auch-immer, dass die Antwort auf all diese Fragen Ja lautet.
    Dann ist es Abend, ich bin allein, und überall im Haus ist es still. Die Gelegenheit also, mit meiner Suche nach der Wahrheit anzufangen. Niemand wird mich stören. Niemand wird mich bei Recherchen überraschen, die nur mich etwas angehen. Ich könnte zum Beispiel googeln: »Farbensehen« und »Halluzinationen« und »innerer Monitor«.
    Könnte ich.
    Aber was, wenn ich das tatsächlich mache – und in zehn Minuten weiß, dass ich an einer unheilbaren Geisteskrankheit leide? Ohne jemanden im Haus, der mich trösten kann. Ohne einen Arzt, der so spät noch Sprechstunde hat.
    Oder wenn das Internet macht, was es so gerne macht: falsche Infos ausspucken? Man gibt »Mückenstich« und »entzündet« ein und erhält die Diagnose »Hirntumor«. Dann stürzt man sich voller Verzweiflung von der nächsten Brücke, obwohl man bloß Fenistil-Gel hätte auftragen müssen.
    Will ich das???
    Nein, ich muss es anders angehen. Ich muss dort suchen, wo alles angefangen hat. Dort, wo es passiert ist, das Schreckliche, Unaussprechliche. Dort, wo meine Veranlagung ihren Ursprung hat.
    Bei Oma Anne.
    Ich stütze die Stirn auf meine Hände und starre auf die Schreibtischplatte. Erblicher Wahnsinn, Oma Anne, Recherche, Wahrheitsfindung – alles schön und gut. Aber muss ich wirklich jetzt damit anfangen? Es ist neun Uhr abends, ich bin müde und allein, und mein Mut hat sich in die hinterste Ecke meiner Seele verkrochen. Die Furcht, dass mein Leben nur allzu bald auf den Kopf gestellt wird – dass ich alle verliere, die mir etwas bedeuten –, krabbelt meine Wirbelsäule hinauf. Gleichzeitig wird mein innerer Monitor klebrig wie mit altem Kaugummi überzogen. Und da beschließe ich, dass ich mich dringend ablenken muss.
    Morgen ist auch noch ein Tag.
    Ich fahre den Mac hoch und öffne das Photoshop-Programm. Wie lange habe ich mir schon vorgenommen, die Fotos der letzten Wochen zu bearbeiten? Ewig! Na also, das ist doch auch was Sinnvolles.
    Ich fange mit dem schönsten Foto an – Mattis, mein sexy Robin Hood, beim Bogenschießen. Ich muss lächeln, als ich seinen konzentrierten Gesichtsausdruck sehe, das schöne Profil, die vollen Lippen, die mich so kurz nach diesem Schuss geküsst haben. Mein Gott, wie sehr ich ihn liebe!
    Also Gold.
    Eifrig beginne ich zu experimentieren.
    Ich ersetze die Farben von Mattis’ Körper, seiner Kleidung, seinen Haaren. Entscheide mich beim Gesicht für Gold, bei den Schultern für Tintenblau, dann für eine dunklere Schattierung. Füge Farbverläufe hinzu, spiele mit Filtern, lasse Konturen leuchten. Male und sättige und probiere Verfremdungseffekte aus, verwerfe und fange neu an.
    Und als der Zwiebelturm der Waldinger Barockkirche Mitternacht schlägt und die Glockentöne durch mein offenes Fenster wehen, da habe ich endlich, endlich das perfekte Ergebnis vor mir auf dem Bildschirm: Mattis, mitternachtsblau und funkensprühend, vor einem märchenhaften, dunkel geheimnisvollen Fichtenwald. Genau in Höhe seines Herzens steht sein Name, und er glänzt in reinstem Gold.
    Ich lehne mich auf meinem Stuhl zurück, erschöpft und glücklich. Meine inneren Farben vor mir auf dem Computerbildschirm zu sehen, verschafft mir ein eigenartiges Hochgefühl. Als würden sie tatsächlich ihre Bedrohlichkeit verlieren, wenn ich sie ins Außen übersetze. Als wären sie einfach nur genau das

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