Der Geschmack von Sommerregen (German Edition)
einziges Mal, möchte ich es verschieben, denn ich will, ich kann Mattis noch nicht verlieren. Ich möchte ihn festhalten, so lange wie möglich, und mich erst in das Unvermeidliche fügen, wenn mein schlechtes Gewissen unerträglich wird. Dieser Punkt wird kommen, das ist mir klar. Eine Beziehung, in der nur einer der beiden ehrlich ist, hat diesen Namen nicht verdient. Seit meinem Desaster mit Noah, dem Wettkönig, weiß das schließlich niemand besser als ich.
Mattis wartet immer noch auf meine Antwort, aber ich gebe sie ihm nicht. Stattdessen drücke ich meine Lippen auf seinen Mund, küsse ihn mit einer Leidenschaft, in die sich Verzweiflung mischt. Und als er meine Hüften umfasst und mich ganz auf sich schiebt, gestatte ich es dem goldgesprenkelten Blau, mich zu überfluten, mich mitzureißen, mein Denken auszulöschen und meine Angst zu betäuben.
Ich kann Mattis noch nicht loslassen.
Es täte einfach zu weh.
Dreiundzwanzig
Mein Vorhaben lässt mir keine Ruhe mehr.
Ich spüre, dass es Zeit wird. Dass ich tun muss, was ich mir geschworen habe.
Ich muss herausfinden, warum ich Farben sehe. Wozu es führen kann, ob es der erste Schritt in den Wahnsinn ist. Ob Oma Anne die gleiche Veranlagung hatte, ob meine Eltern deshalb so allergisch auf meine Innenwelt reagieren. Ob es möglich ist, dass auch ich etwas Schreckliches tun werde. Und wie zum Teufel ich das verhindern kann.
Tagelang grübele ich darüber nach, wie ich mehr über meine Oma herauskriegen könnte. Jetzt, wo ich mich endlich überwunden habe, trotz meiner Furcht die Wahrheit herauszubekommen, kann ich an nichts anderes mehr denken. Aber wo soll ich anfangen? Mein Vater will mir nichts erzählen, und meine Mutter darf ich nicht damit »quälen«. Dennoch weiß ich, dass ich nur eine Antwort auf meine Fragen bekommen werde, wenn ich Licht in die dunkle Vergangenheit meiner Familie bringe.
Weil diese Vergangenheit mein Erbe ist.
Weil sie mich bestimmt.
Ich wende meine Fragen, Zweifel und Ängste in meinem Kopf hin und her, her und hin, aber ich komme keinen Schritt weiter.
Ich brauche meine Eltern.
Entschlossen stehe ich vom Schreibtisch auf und mache mich auf die Suche nach Mama. Es ist Donnerstagnachmittag, in einer Stunde wollen sie und Papa an den Ammersee fahren, und wenn ich sie jetzt nicht frage, muss ich das ganze verdammte Wochenende lang darüber nachdenken, was Mama mir vielleicht erzählt hätte, wenn ich es nur gewagt hätte, sie darauf anzusprechen. Bisher hat meine Mutter zwar immer abgewehrt, wenn ich sie mit Oma bedrängt habe, aber seit sie an dieser psychischen Krise leidet, hat sie sich doch ziemlich verändert.
Ob ihre Krise wirklich nur mit meiner Abnabelung zusammenhängt? Vielleicht ist Mama in den letzten Wochen ja auch einfach zum gleichen Schluss gekommen wie ich: dass man sich dem, was man als so bedrohlich empfindet, irgendwann einmal stellen muss. Sie sich dem schlimmen Erlebnis aus ihrer Kindheit, ich mich dem Dämon meiner Farben.
Und wir beide uns der Wahrheit.
Ich balle unwillkürlich die Fäuste. Möglicherweise wird diese Wahrheit, wenn sie denn rauskommt, mir den Boden unter den Füßen wegziehen. Und wenn schon!, denke ich grimmig. Es gibt keine Alternative.
Also los.
Ich suche Mama in der Küche, im Wohnzimmer, im Bad und finde sie schließlich im Arbeitszimmer. Angespannt knete ich meine Hände. »Hast du grad Zeit für mich, Mama? Ich muss mit dir reden. Es ist wichtig.«
Mama hockt auf dem Boden, über eine flache Kiste gebeugt. Als sie sich umdreht und zu mir hochschaut, sehe ich, dass sie Tränen in den Augen hat. Oh nein, denke ich und mein Herz wird schwer, nicht schon wieder. Nicht schon wieder!
Du willst Mama doch nicht quälen, oder?
»Was gibt’s denn, Schatz?« Mamas Stimme klingt hoch und piepsig. Es ist die Stimme eines verängstigten Kindes, nicht die einer erwachsenen Frau. »Kann es vielleicht noch ein bisschen warten?«
Fast kommen mir selbst die Tränen. Was soll ich denn jetzt tun? Trotzdem nach der alten Geschichte fragen, obwohl Mama offensichtlich total fertig ist? Oder nicht fragen und das Ganze ein weiteres Mal aufschieben? Noch einmal und noch einmal und noch einmal … bis in alle Ewigkeit?
Ich schaue auf Mama runter, sehe ihre roten Augen, die zitternde Hand, die das ergrauende Haar zurückstreicht. Und ich weiß, ich darf sie nicht fragen, nicht, wenn sie in dieser Verfassung ist. Vielleicht nach dem Wochenende, wenn sie erholt ist von Wellness, Wandern und gutem
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