Der geschmuggelte Henry
Gedanken übel geworden, wie schrecklich es sein würde, wenn unter den Millionen, die es sein könnten, gerade dieser es wäre. Sie fuhren dann mit der Unterzeichnung fort, und als George Brown, alias Kentucky Claiborne, mit Schwung zu der Unterschrift ansetzte, die ihm zehn Millionen einbringen sollte, rutschte der Ärmel seiner speckigen schwarzen Lederjacke zurück, und Mr. Schreiber bemerkte eine in sein Handgelenk eintätowierte Zahl AF 28636794.
«Was ist das für eine Zahl, die Sie da auf Ihrem Handgelenk haben?» hatte Mr. Schreiber gefragt.
Mit einem etwas blöden Lächeln hatte der Hillbilly-Sänger geantwortet: «Das war meine Militärnummer, als ich bei der verfluchten Luftwaffe war. Da ich sie nie behalten konnte, habe ich sie mir auf den Arm tätowieren lassen.»
Geistesgegenwärtig hatte Mr. Schreiber sich die Zahl eingeprägt und sie, sobald der feierliche Akt vorüber und er allein war, aufgeschrieben und sie dann von seiner Sekretärin dem Luftwaffenhauptquartier im Pentagon in Washington mitteilen lassen. Drei Tage später war alles klar. Die Luftwaffe hatte die Fotokopie der Akte geschickt, und Mr. Kentucky Claiborne war wirklich der George Brown, der am 14. April 1950 Miss Pansy Amelia Cott in Tuynbridge Wells geheiratet hatte und dem am 2. September ein Sohn geboren worden war, der auf die Namen Henry Semple getauft wurde. Um auch den letzten Zweifel zu beseitigen, war eine Kopie der Fingerabdrücke und das Foto eines ziemlich verwegen aussehenden Gl beigefügt, der kein anderer als Kentucky Claiborne war, nur zehn Jahre jünger und ohne seine Koteletten und seine Gitarre. Mrs. Harris betrachtete die Beweisstücke, während ihr langsam die Größe der Katastrophe aufging, die plötzlich über sie gekommen war. Das einzige Schlimme, was den kleinen Henry treffen konnte, außer daß man ihn zu den armen, lieblosen Gussets zurückbrachte, war, daß er von diesem ungebildeten, selbstsüchtigen, egozentrischen Bauerntölpel aufgezogen wurde, der jeden Ausländer verachtete, der den kleinen Henry auf den ersten Blick gehaßt hatte; der alle und jeden haßte, außer sich selbst; der nur an seine Karriere und seinen Appetit dachte und der jetzt eine riesige Geldsumme bekommen würde, um sie mit vollen Händen zu vergeuden.
Mrs. Harris hatte sich in ihrer romantischen Phantasie den unbekannten Vater des kleinen Henry als einen reichen Mann vorgestellt, der in der Lage wäre, dem Kind ein schönes Leben zu bieten; sie war klug genug, um zu erkennen, daß unbegrenzter Reichtum in den Händen eines solchen Menschen wie Claiborne gefährlicher war als Gift, nicht nur für ihn selbst, sondern auch für den Jungen. Und nachdem sie Henry den furchtbaren Gussets entrissen hatte, sollte sie den kleinen Henry in die Hände dieses Mannes geben? Wenn sie nur nicht den törichten Gedanken gehabt hätte, den Jungen nach Amerika mitzunehmen. Wäre er drüben geblieben, hätte man ihn vielleicht noch retten können.
Mrs. Harris legte das Dokument wieder hin und setzte sich, weil ihre Beine sie nicht mehr trugen. «Ach Gott, ach Gott», sagte sie, und gleich darauf fragte sie mit heiserer Stimme: «Was sollen wir nun tun? Haben Sie es ihm gesagt?»
Mr. Schreiber schüttelte den Kopf und erwiderte: «Nein. Ich glaubte, Sie würden vielleicht erst einmal darüber nachdenken wollen. Schließlich haben Sie das Kind herübergebracht. Und Sie müssen darum entscheiden, ob Sie es ihm sagen wollen.»
Dadurch gewann Mrs. Harris wenigstens etwas Zeit, und so sagte sie: «Ich danke Ihnen, Sir. Ich werde es mir durch den Kopf gehen lassen.» Und sie stand von ihrem Stuhl auf und verließ das Zimmer.
Als sie in die Küche kam, blickte Mrs. Butterfield auf und stieß einen leisen Schrei aus. «Um Gottes willen, Ada, du bist ja weißer als deine Schürze! Ist etwas Furchtbares passiert?»
«Ja», sagte Mrs. Harris.
«Haben sie den Vater des kleinen Henry gefunden?»
«Ja.»
«Und ist er tot?»
«Nein», stammelte Mrs. Harris, und dann folgten wilde Flüche. «Nein, das ist es eben gerade, er lebt. Es ist der» — neue Flüche — «Kentucky Claiborne.» Daß die Situation so unlösbar schien, daß sie jenen, die so besonders gut zu ihr waren, diese Last auf gebürdet, daß sie alles so verpfuscht hatte, vor allem das Leben des kleinen Henry, machte sie so verzweifelt, daß sie etwas tat, was sie schon lange nicht getan hatte. Sie suchte bei ihrem Talisman, ihrem teuersten Besitz, dem Diorkleid, Zuflucht. Sie holte es aus
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