Der geschmuggelte Henry
nicht zu umgehende Wahrheit, wie man sich auch drehte und wand, und die Dokumente in Mr. Schreibers Händen besiegelten sie. George Brown und Henry Brown waren durch Blutsbande verbunden, und um vier Uhr morgens war Mrs. Harris so weit, sich in das Unabänderliche zu fügen. Sie stieß einen lauten Seufzer aus und sagte mit einer Demut, die Mrs. Butterfield mehr als alles in ihrer langen Freundschaft rührte: «Ich glaube, du hast recht, Vi. Er muß zu seinem Vater zurück. Wir werden es Mr. Schreiber nachher sagen.»
Aber da spielte Mrs. Harris’ gemartertes müdes Herz ihr einen bösen Streich, wie es das Herz so oft tut, wenn es die Grenze dessen, was es ertragen kann, erreicht. Es gaukelte ihr eine Chimäre vor, einen Trost, den sie bitter brauchte. Konnte es nicht sein, daß unter dem besänftigenden Einfluß eines kleinen Jungen George Brown-Kentucky Claiborne ein anderer Mensch wurde? Sofort, und noch ehe sie es selber merkte, war Mrs. Harris wieder in jenem Traumland, dem im Grunde all ihr Kummer entsprungen war. Alles löste sich plötzlich wie von selbst: Claiborne-Brown hatte Henry geohrfeigt, als er ihn für einen kleinen störenden Bettler gehalten hatte, aber seinen eigenen Sohn würde er in die Arme schließen. Er hatte allerdings seinem Haß auf die Engländer wütend Luft gemacht, aber der Junge war ja nur ein halber Engländer.
Sie versank wieder in all den alten Träumen: Der Vater war überglücklich, endlich wieder mit seinem Sohn vereint zu sein, und für den kleinen Henry begann ein besseres Leben, als er es je gekannt hatte. Er würde nie wieder hungern und frieren müssen, er würde für immer den Klauen der greulichen Gussets entrissen sein, er würde in diesem wunderbaren Lande aufwachsen und seine Chance im Leben haben. Was George Brown betraf, so brauchte er den besänftigenden Einfluß des kleinen Henry so sehr, wie der Junge einen Vater brauchte. Er würde sich in allem bessern, um seinem Sohn ein gutes Beispiel zu geben, und so noch mehr zum Idol der amerikanischen Jugend werden, als er es schon war.
Immer stärker war Mrs. Harris davon überzeugt, daß sie im Grunde doch die Rolle der guten Fee gespielt hatte. Sie hatte es erreicht, was sie sich vorgenommen hatte. Sie hatte gesagt: «Wenn ich nur nach Amerika fahren könnte, dann würde ich den Vater schon finden.» Nun, sie war nach Amerika gefahren, sie hatte den Vater des Kindes gefunden, oder zumindest hatte sie als Werkzeug dabei gedient. Der Vater war ein Millionär, wie sie es immer gewußt hatte.
So lullte das trügerische Herz sie ein und ließ sie tief schlafen, ohne daß sie auch nur im Traum daran dachte, was der nächste Tag ihr bringen würde.
An diesem Tage nach dem Mittagessen wartete George-Kentucky Claiborne-Brown mit einem unbehaglichen Gefühl in Mr. Schreibers Arbeitszimmer in der Park Avenue Nr. 650, wohin man ihn bestellt hatte, und sein Unbehagen wuchs noch, als Mr. und Mrs. Schreiber zusammen mit Mrs. Harris, Mrs. Butterfield und einem fast neunjährigen Jungen namens Henry hereinkamen.
Mr. Schreiber machte seiner Frau und den anderen ein Zeichen, Platz zu nehmen, und sagte zu dem Sänger: «Setzen Sie sich, Kentucky. Wir haben etwas sehr Wichtiges mit Ihnen zu besprechen.»
Und schon begannen die Augen des Sängers zornig zu funkeln. Er wußte genau, worum es ging, aber er wollte nichts davon wissen. Er stellte sich in einer herausfordernden Haltung in eine Ecke des Zimmers und sagte: «Wenn Sie alle über mich herfallen wollen, weil ich dem Kinde eine Ohrfeige gegeben habe, dann überlegen Sie sich das lieber noch mal! Der kleine Bastard hat mich bei meiner Probe gestört. Ich habe ihm gesagt, er solle abhauen, da ist er frech geworden, und ich habe ihm eine geknallt. Und wissen Sie was? Ich würde das noch mal tun. Ich habe Ihnen ja schon gesagt, daß ich Ausländer ebensowenig ausstehen kann wie Nigger. Man soll sie von mir fernhalten, und dann ist alles gut.»
«Ja, ja», erwiderte Mr. Schreiber gereizt. «Wir wissen das alles.» Jetzt da Kentucky den Vertrag unterschrieben hatte, brauchte er nicht mehr besonders rücksichtsvoll mit ihm umzugehen. «Aber das ist es nicht, weshalb ich Sie gebeten habe, heute herzukommen. Es ist etwas ganz anderes. Setzen Sie sich, damit wir in Ruhe darüber sprechen können.»
Erleichtert, daß man ihn nicht hergebeten hatte, um ihn zur Verantwortung zu ziehen,
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